27. September (Tag 94)

Aliceville, AL – Linden, AL

Underground Railroad Trail – Tag 2

Tages-Km: 135
Gesamt-Km: 5.312
Höhenmeter: 562
Zeit im Sattel: 7:00
Wetter: bewölkt, heiter bis wolkig
Temperatur: 17 – 24° C



Sweet Home Alabama
Heute muß ich schweren Herzens einen Mythos zu Grabe tragen, den ich seit m einer Jugendzeit mit mir herumgetragen habe. In den 70ern habe ich die „Allman Brothers“ vergöttert. Ja, ich weiß, „Sweet Home Alabama“ ist von Lynyrd Skynyrd, aber das ist ja nur der Titel dieses Blogeintrages – im Moment geht’s aber um die Allman Brothers. Hier das Albumcover von "Live at Fillmore East":


 Ich war bis heute der Überzeugung, dass Duane und Gegg Allman, Berry Oakley und der Rest der Brothers aus Alabama stammen. Falsch, sie kommen aus dem Nachbarstaat Georgia. All die harten Radel-Kilometer durch Alabama waren für mich Allman-Kilometer, und jetzt kommen die Jungs aus GEORGIA! Was soll’s - die Allmann Brothers waren eine tragende Säule des „Southern Rock“ der 70er Jahre. In meiner Funktion als 15-jähriger Bassist der Band „Karies“ war Berry Oakley mein großes Vorbild. Wer erinnert sich noch an „Live At Fillmore East“ mit Stücken wie Statesboro Blues, Stormy Monday oder In Memory of Elizabeth Reed? Als Bassist war für mich One way out natürlich ein Muss. Reinhören? (http://www.youtube.com/watch?v=zm15lP8B3Nw)

Dann der Schock: Duane Allmann stirbt 1971 an den Folgen eines Motorradunfalls. Kurz darauf erscheint das Album „Eat a Peach“, an dem Duan noch mitgearbeitet hat: Melissa, Mountain Jam, Trouble no more – Monumente der damaligen Rockmusik, jedenfalls für mich. Dann stirbt MEIN Berry Oakley, ebenfalls an den Folgen eines Motorradunfalls ( fast an derselben Stelle, an der auch Duan Allmann verunglückt ist.) Ich erinnere mich heute noch (bzw. WIEDER), wie mich das damals getroffen hat. Mein Idol tot. Mit meinen 15 Jahren war der Tod damals weiter entfernt als die Heimatgalaxie der Maahks – was jetzt auch wieder nur die Perry Rhodan Fans einordnen können. Für alle anderen gilt: WEIT WEG.

Mir sind die Allman Brothers während meiner jetzigen Radreise durch Alabama (Georgia hin oder her) noch einmal ganz nahe gekommen. Weil ich in den vielen Stunden im Sattel auch viel vor mich hin träume oder sinniere, werden meine Radreisen immer auch zu Zeitreisen. In meinem Alter verständlicherweise weniger zu Ausflügen in die Zukunft als vielmehr in die Vergangenheit. Im Augenblick - hier und jetzt, während ich diese Zeilen tippe - höre ich jedenfalls mit großem Vergnügen und aktiver Sing- und Trommelbeteilugung (und vermutlich sehr zum Ärgernis der Zimmernachbarn) das Album „Live at Filmore East“. Motorradunfall oder Georgia hin oder her: heute Abend sind wir wieder zusammen, Duane und Berry und ich.

“Lord, I was born a ramblin' man
Trying to make a living and doing the best I can
When it's time for leaving, I hope you'll understand
That I was born a rambling man


My father was a gambler down in Georgia
He wound up on the wrong end of a gun
And I was born in the back seat of a Greyhound bus
Rolling down highway forty-one”

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So, und jetzt zur heutigen Etappe. Das trübe Wetter passt zu meiner Stimmung, als ich um 6:10 Uhr aufwache. Trucks dröhnen am Motel vorbei. Einer nach dem andren. WRUUUU-MMMM, WRUUUU-MMMM, WRUUUUUU-MMMMM.


Hilft nichts. Augen auf und durch. Die ersten 15 Kilometer sind NOCH schlimmer als gestern. Grauenhaft. Aber dann verlässt die Route den Highway 17 und auf einmal ist tatsächlich alles anders. Ruhig, beschaulich, angenehm. Es dauert eine ganze Weile, bis ich das Highway-Trauma abschütteln kann und nicht mehr alle 1,3 Sekunden panisch in den Rückspiegel gucke. Ich bin auf einmal tatsächlich allein unterwegs. Träumen ist trotzdem nicht angesagt, da die Straße – nun ja – so ihre Marotten hat.


Alles egal, solange keine Holztransporter mit (mindestens) 80 Km/h mit weniger als einem halben Meter Abstand an einem vorbei donnern. Meine Nackenmuskulatur entpannt sich langsam und der verkrampfte Klammergriff an den Lenker lockert sich. Die Sinne lösen sich aus ihrer Erstarrung und nehmen ihren Dienst wieder auf. Ich entfliehe dem lähmenden inneren Tunnel und mache das, wofür ich hier her gekommen bin: ich genieße das Radeln durch das ländliche Alabama. Es ist hügelig und gelegentlich werde ich mit einer Aussicht belohnt. Wer hätte gedacht, dass Alabama – wenige Hundert Kilometer nördlich der Golfküste - aussieht wie die Gegend zwischen Rosenheim und Obing?


Alabama ist für USA-Touristen nicht unbedingt die Nr. 1 auf der Liste und das Alabama abseits der (dünn gesäten) Nord-Süd-Gefälle ist auch in den USA enorm. Ich war erschüttert, in welch armseligen Hütten und Behausungen viele Leute hier leben. Fast nur Trailer bzw. Trailersiedlungen, richtige Häuser haben Seltenheitswert. Die Dörfer sind (meinem Empfinden nach) völlig heruntergekommen und so lebendig wie eine Eintagsfliege um 23:59 Uhr.






Nichtsdestotrotz waren die Kilometer 16 bis 107 schön zu radeln. Ab Kilometer 108 war ich wieder in der Hölle. Schmale Straßen und dichter Schwerverkehr in beiden Richtungen. Vor allem Trucks, die Holz transportieren (Log Trucks). So ein Truck passt gerade einmal auf die Fahrbahn. Sicherheitsraum nach links und rechts – vergiss es. Immer wieder sieht man abgebrochene Rückspiegel auf dem Mittelstreifen, weil sich entgegenkommende Fahrzeuge häufig touchieren. Der pure Horror für den Radfahrer. Im Idealfall gab es (zweimal für je drei Kilometer) diesen Seitenstreifen.


Die Rumble Strips sind schön zu erkennen, aber glaubt mir: Ich bin zähneklappernd, aber frohlockend über diesen Hindernisparcour geritten, denn ich war AUSSERHALB der Reichweite der Monster-Trucks. Der Normalfall sah nämlich so aus:


Klar, dass ich für dieses Foto einen Holzlaster OHNE Ladung erwischt habe, der ausserdem noch leicht zur Straßenmitte ausgewichen ist, als er mich mit dem Fotoapparat am Straßenrand erblickt hat. Im Normalfall fährt der Laster exakt an der weißen Linie entlang und die Ladung (siehe die Stahlträger) ragt links und rechts ein gutes Stück über die Fahrerkabine hinaus. Der pure Wahnsinn.

Ich bin heute etwa 30 Mal mit Schmackes ins Bankett, den Straßengraben, den Wald, die Wiese, den Sumpf, wenn gerade wieder einer dieser Trucks zum Überholen angesetzt hat und im selben Moment Gegenverkehr um die Kurve/über den Hügel aufgetaucht ist. Was soll der arme Trucker auch machen? Fliegen kann er nicht. Kein einziger LKW hat mich von der Straße gehupt oder versucht, mich in den Graben zu drängen. (Das blieb bislang nur einigen Pickups vorbehalten). Die Trucker tun ihr Bestes, aber Massenträgheit ist Massenträgheit und sie können nicht zaubern. Radler gehören nicht auf solche Truck-Routen. Ich verstehe nicht, wie die Adventure Cycling Association derartig (lebens-)gefährliche Strecken zur Fahrradroute erklärt. Gut, sie weisen auf die Problematik hin, aber trotzdem: das ist viel zu gefährlich. Schade.

So – jetzt sind es nur noch drei Tagesetappen und ich bin bzw. wäre am Golf von Mexiko. Morgen entscheide ich spontan. Ich radle für mein Leben gern, aber nicht gern um mein Leben. Wenn es wieder ein Spießrutenlauf wird, breche das Experiment „Underground Railroad Trail“ ab und „trampe“ nach Süden. Pickups mit freundlichen Fahrern gibt es genug.

Weils so schön zum Titel des heutigen Blog passt: mal wieder ein Filmzitat zum Erraten. Aus welchem Film stammt das Zitat:

"Definiere Ironie: Ein Haufen Idioten, die in einem Flugzeug zu einem Song tanzen, der durch eine Band berühmt wurde, die bei einem Flugzeugabsturz umkam."

Till Senn

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