20. September (Tag 87)

Paducah, KY – Dover, TN

Tages-Km: 132
Gesamt-Km: 4.624
Höhenmeter: 940
Zeit im Sattel: 7:46
Wetter: sonnig
Temperatur: 21– 33° C



First things first: „Will nicht, muss!“ stammt aus dem Film “M – eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931), mit dem großen Peter Lorre als „M“, Fritz Lang als Regisseur und Gustav „Mephisto“ Gründgens in einer Nebenrolle.

Und noch was Wichtiges. Die Fotos konnte man bisher ja auch schon durch Anklicken vergrößern. Blöderweise musste man dann aber über "Zurück" wieder zurück zum Blog. Tino Kluge hat das Problem jetzt gelöst und... aber seht am besten selbst und klickt ein Bild an. HALT! Da Tino immer erst mit Verzögerung basteln kann, kann es sein, dass ihr schneller seid als er. Versucht es im Zweifelsfall einfach mal an einem früheren Blogeintrag, dem gestrigen zum Beispiel.

Land between the Lakes
Schon vor Sonnenaufgang bin ich zugange: Waschen, Zähne putzen, mich mit Sonnenspray einnebeln, ein wenig husten (wegen des Sonnensprays), ein wenig schimpfen (wegen des Hustens), Mails checken, mit Deutschland telefonieren (skypen), den Kopf über die deutsche Bürorkatie schütteln (weil ich jetzt zum dritten Mal ein Blatt Papier ausdrucken, unterschreiben und dann nach Deutschland faxen und ein paar Tage später dasselbe nochmal machen darf, nur dann das unterschriebene ORIGINAL für 28 Dollar per Express nach Deutschland SCHICKEN muss). Prompt komme ich 45 Minuten später los als geplant.



Die ersten 50 Kilometer sind zum Vergessen. Also vergessen wir sie. Bei Kilometer 51 erreiche ich das „Land between the Lakes“, kurz: LBL (www.lbl.org) . Das Land zwischen den Seen ist ein Fernerholungsgebiet von der Größe eines Regierungsbezirkes. Es liegt zwischen dem Lake Barkley und dem Kentucky Lake und ist die größte Binnen-Insel (gibt es so etwas?) der USA.



Kein geringerer als John F. Kennedy hat im Jahre 1963 das Gebiet zum Erholungsgebiet ernannt. Die „Lakes“ sind eigentlich Flüsse: der Cumberland River und der Tennessee River. 1840 hieß die Gegend folgerichtig auch noch „Land between the rivers“. Aber nachdem man die beiden Flüsse künstlich aufgestaut und damit zu Seen umfunktioniert hatte, ist aus dem „Land between the rivers“ das „Land between the lakes“ geworden.



„Remember playing outside when you were a kid? You ran… and you jumped… and you yelled… and when the sun went down your mother called, “time to come home.” And you came inside with rosy cheeks, smelling of the wind… and the earth… and of all that was good.”

Aus diesem einleitenden Satz eines Werbeprospekts lässt sich messerscharf schließen, dass hier die Generation 50+ angesprochen ist. Kein Jugendlicher von Format würde heute freiwillig Dinge tun wie laufen oder springen. Schreien ja, aber niemals zeigen, dass in der viel zu großen Hose (Jungs) bzw. der viel zu engen Hose (Mädchen) doch so etwas ähnliches wie ein Mensch steckt, der ein Leben neben der Unterhaltungselektronik nicht nur kennt sondern dieses auch noch zu schätzen weiß. NEVVA EVVA!

Und Kinder? KINDER? HA! Wer „Kind“ sagt, muss auch „Mutter“ sagen. Keine moderne Mutter von Format würde es ertragen, wenn ihr Kind morgens in „DIE NATUR“ loszieht und erst abends wieder aufkreuzt. Du meine Güte! Kinder hinaus in eine Welt voller gefährlicher Dinge wie Wiesen, Sträucher oder Bäume. Von Bächen, Flüssen oder Wasserfällen gar nicht zu sprechen! GEFAHR, GEFAHR, LEBENSGEFAHR! In Wiesen lauern Löwen, hinter Sträuchern verstecken sich Kinderschänder und von Bäumen fällt man herunter. Lebensgefahr als die Gefahr, zu leben. Wir 50+er durften tatsächlich noch unbegluckt aufwachsen. Welch ein Glück, dass unsere Mütter nicht die Zeit dazu hatten, den ganzen Tag lang pädagogisch zu sein. Einem Kind kann nichts Schlimmeres passieren, als eine Mutter mit Hochschulabschluss und zuviel Freizeit. wir hatten damals die Alzauen, den Mühlbach und den Wasserfall, jede Menge Schiefer, Brandblasen und Bakterien (dafür keine Allergien), Baumhäuser, Tauchmanöver unter dem Wasserfall und Pfennigstücke auf den Gleisen des „Harter Bockerls“, Zündeln mit 7, Rauchen mit 8 und im Sommer täglich mit dem Rad die 10 Kilometer zum Burgkirchner Freibad und später dann ins Garchinger Bad. Ahh, auf das Phänomen der Erinnerungsverklärung kann ich mich immer verlassen. Schön war’s.

Wo war ich eigentlich? Ach ja… Aus Radlersicht ist das Land zwischen den Seen Himmel und Hölle zugleich. Himmel, weil man (außer am Wochenende) fast für sich allein radelt. Hölle, weil es derart hügelig ist, dass das Allgäu im Vergleich dazu wie Ostfriesland wirkt. Herrschaften, diese H.Ü.G.E.L. haben mir heute den allerletzten Zahn gezogen, das kann ich euch sagen. Alle. Und jeden einzelnen ohne Lokalanästhesie. Passagen wie die im folgenden Bild, also Abschnitte von mehr als 200 Meter OHNE Achterbahn kann ich an den Fingern einer halben Hand abzählen!



Wer auch immer die Straße gebaut hatte, muss Radfahrer zutiefst gehasst haben. Bis gestern bin ich auf dieser Tour erst fünf Mal über 900 Höhenmeter Tagesleistung gekommen. Und diese fünf Etappen waren allesamt im Gebirge! Heute waren es 940 Höhenmeter, nur zwei Meter weniger als bei der Mörder-Etappe den „Coquihalla Pass“ (Kanada) hinauf. Jessas!

Bei all dem Gejapse hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen, dass ich mittlerweile in Tennessee bin. Das „Land between the lakes“ gehört zu etwa gleichen Teilen Kentucky und Tennesee.



Kurz vor Einbruch der Dämmerung und nach 7:46 Stunden im Sattel (und über 11 Stunden auf Achse) erreiche ich endlich Dover. Sitzen kann ich immer noch, treten kaum mehr. Die Schenkel glühen und die Waden fühlen sich an wie zwei Schnitzel, die man fast acht Stunden lang weichgeklopft hat.

Bis morgen früh hat sich das hoffentlich wieder eingerenkt. Um 6:00 Uhr klingelt jedenfalls der Wecker. Ich will morgen… aber das wisst ihr mittlerweile ja schon.

Till Senn

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