28. Juni (Tag 3)

Port Townsend - Anacortes


Tages-Km: 63
Gesamt-Km: 182
Höhenmeter: 470
Zeit im Sattel: 4:20
Wetter: bedeckt
Temperatur: 10 - 16° Grad



Welcome to hell
Dank meines Schlafanzugs bin ich heute Nacht im Zelt NICHT erfroren. Schlafanzug? Nun ja, der rettende Gedanke kam mir, als ich die Regenklamotten entdeckt habe. Regenhose und Regenjacke waren heute nach mein Schlafanzug.

Zum Frühstücken haben wir uns das "Seafood Cafe" in Port Townsend ausgesucht. Es ähnelt von außen einem selten genutztem Schuppen für Gartengeräte - und innen eigentlich auch. Auf der Fläche einer Reihenhausterrasse bieten vier Tische Platz für mindestens 27 Gäste - sofern alle stehen und sich gemeinsam umdrehen. Die No-Nonsens-Kellnerin begrüßt uns mit den Worten "Welcome to hell. Coffee is self service, so don't wait for me! And what can I get you for breakfast, guys?" Ein Stammgast vom Tisch nebenan hatte uns mit einem Augenzwinkern schon gewarnt: "If you are lucky someone will come and take your order. But they have an attitude." Alles natürlich nur ein Scherz; man geht nett miteinander um und schäkert viel, wenngleich mir die No-Nonsense-Kellnerin durchaus den Eindruck macht, als könne sie nichts mehr auf diesem Planeten überraschen, schon gar nicht Männer. Eigentlich schwer zu verstehen, wo Männer doch so geheimnisvolle Wesen sind.

Nach einem 4.000-Kalorien-Frühstück machen wir uns auf den Weg zur Fähre, auf der ich mehr Tourenradler treffe als während der gesamten 3-monatigen Mississippi-Tour im vergangenen Jahr. Ein besonderer Radler ist der ältere Herr hinter dem Harley-Fahrer (mit dem wir uns auch ganz nett unterhalten haben). Nein nicht GANZ hinten. Das ist Be! Ich meine den, der dazwischen sitzt.



Er fährt ein extravagantes Dreirad (Trike) mit einem großen, bunten Lampion an einer hohen Fahnenstange, damit ihn die Autos nicht übersehen. Wie sich im Gespräch herausstelt, war er früher als Musiker, Sänger und Dirigent in der ganzen Welt unterwegs. Auch in deutschen Konzertsälen hat er dirigiert.

Das ist mein neuer Wäschetrockner.


Be hat Holz-Wäscheklammern dabei, mit denen ich nun meine nass geschwitzten Trikots am Fahnenmast des Anhängers befestige. Zwei Hügel, umgerechnet also zehn Minuten später sind sie wieder trocken. So wechseln sich die beiden Trikots den ganzen Tag über laufend ab. Halt! Münzwaschautomaten gibt es hier pro Quadratkilometer mehr als Kerzen in der Gnadenkapelle zu Altötting.

So sah das kurz vor Anacortes aus. Twighlight Zone. Die Stimmung erinnert mich an Norwegen. Die Temperatur nicht: in Norwegen war es viel wärmer.








27. Juni (Tag 2)

Bremerton - Port Townsend

Tages-Km: 88 KM
Gesamt-Km: 118
Höhenmeter: 550
Zeit im Sattel: 5:28 Stunden
Wetter: bedeckt
Temperatur: 12 - 15° C


K.A.L.T.
Der 1987 in der Sowjetunion entstandene der Film "Der kalte Sommer des Jahres 53" hat im Sommer 2010 zwischen Seattle und Vancouver nichts von seiner Aktualität verloren. ES IST KALT! Ich friere. Und ich friere nicht leicht. Zugegeben, schon Mark Twain wußte zu berichten, dass der kälteste Winter, den er je erlebt hatte, ein Sommer in San Francisco war. Zugegeben, es ist noch nicht Mitte Juli und der Hochsommer noch 15 Tage entfernt. Und Alaska ist auch schon in Sichtweite. Aber jetzt mal im Ernst: Vom deutschen Sommermärchen per Direktflug ins ewige Eis? Da wirkt meine Klamottenauswahl ziemlich ambitioniert: NULL lange Hose, EIN mitteldünner Pullover - ZWEI superdünne Funktionsunterhemden, DREI luftige kurzärmelige Rad-Trikots. Und in meine Socken passe ich nicht rein sondern nur meine Füße.

Schweiß fließt, wenn Muskeln weinen. So gesehen bin ich eine fürchterliche Heulsuse. In dieser extrem klimatisierten Hügellandschaft bräuchte ich ein ganzes Regal voller Funktionsunterhemden, um alle fünf bis zehn Minuten trockenen Stoff über die eisige und nasse Haut zu ziehen. Die Hügel sind zahlreich und mein Anhänger ist schwer! Verdammt schwer. Was ich an warmen Klamotten eingespart habe, mache ich mit sinnfreier Technik wieder wett. Ich transportiere einen halben MediaMarkt durch die Gegend und friere mir dabei den... aber lassen wir das. Nächstes Mal eben keinen Fotoapparat, keine Videokamera, keine zwei Stative, kein großes und kein kleines Notebook und auch keine Ladegeräte, Netzteile, Kabel, Batterien, Akkus und mobile Solarzellenanlage (die ohne Sonne sowieso nicht funktioniert, deshalb aber um kein Gramm leichter wird.)

Die Amerikaner machen es sich schon einfach, oder? Rennradler, die einen Liegestuhl sowie zwei separate Radständer mit sich führen. Während einer längeren Steigung (!!) treffen wir auf eine Gruppe Triatlethen, die hier trainieren und im ständigen Wechsel radeln, laufen und (wo auch immer) schwimmen. Wir unterhalten uns sehr nett und ich kann es natürlich nicht lassen und frage, ob das bei Triatlethen denn so üblich sei, einen Liegestuhl mit zum Training zu bringen. "Ja" antworten sie, das sei durchaus üblich. Dann wollen sie wissen, warum ich ein schwarzes Bierfass auf dem Anhänger transportiere.

Das Fass auf dem Anhänger ist KEIN BIERFASS! Es handelt sich vielmehr um einen bärensicheren Vorratsschrank für Lebensmittel. Waschbären, Schwarzbären und Grizzlys stehen Gewehr bei Fuß, sobald der Mensch im Allgemeinen und wir im Besonderen (in ein paar Tagen) Vancouver verlassen und durch die Wildnis der kanadischen Rocky Mountains radeln. Ich stelle mir vor, wie die ganze Bärenfamilie mit Messer, Gabel und Lätzchen hungrig und in freudiger Erwartung um einen großen Tisch versammelt sitzt und im Chor das Mittagsgebet spricht: "Komm, Herr Jesus, sei unser Gast ..." Essen auf Rädern? Nein danke! Quatsch, bzw. "just kidding", wie wir auf dem Bau immer sagen. Tatsache aber ist: wo Menschen sind, sind - jedenfalls für Bären -verlockende Düfte. Also geht der Bär zum Mensch, was der Mensch im Allgemeinen und ich im Besonderen nicht so gerne mag. Daher das Bierfass, das keines ist. Die Brotzeit kommt in das Fass und das Fass weit weit weg vom Zelt. Wenn der Bär das Fass nicht aufbekommt, zieht er nach einer Weile von dannen und wir essen weiter auf unseren Rädern.

Man hat uns dringend empfohlen, uns nicht mit Seife zu waschen, wenn wir in der Wildnis zelten. Am besten überhaupt nicht waschen. Auch der Geruch von Zahnpasta zieht den Bär an und wir sollten derartigen Blödsinn lieber bleiben lassen. Kurz: wir würden mögliche Begegnungen der unangenehmen Art mit hoher Wahrscheinlichkeit vermeiden, wenn wir unsere Körperhygiene im Bärenland auf Null herunterfahren und Meister Petz mit Gestank vertreiben. Die Alternative lautet also: stinkend leben oder duftend sterben.

Zwei Bilder vom ersten richtigen Radeltag:




26. Juni (Tag 1)

Schlaflos in Seattle...

Wie üblich spielt mir die Zeitumstellung übel mit. Seattle hinkt der deutschen Zeit 9 Stunden hinterher. Nach 10 Stunden Nonstop-Flug ging es vom Flughafen erst einmal mit einer Art S-Bahn ins Stadtzentrum von Seattle. Ziel war der JRA Bike Shop, an den ich Anfang des Jahres ein E-Mail gesendet und darin angefragt hatte, ob ich zwei große Fahrradkoffer anliefern lassen dürfe. "Sure", lautete die Antwort von Eric, dem Besitzer des Ladens. Über drei Stunden lang machen wir erst einmal die Fahrräder fahrtüchtig.
(Eric and Chris, I know you will follow the blog. Once again many thanks for your helpfulness and a brilliant service.)
Hundemüde, ziemlich hungrig und extrem durstig radeln wir endlich zum "Inn at Virginia Mason", wo ich - ebenfalls schon vor Monaten - ein Zimmer für die erste Übernachtung reserviert hatte. Seattle ist verdammt hügelig und erinnert ein wenig an San Francisco. Mein lieber Scholli! Dreimal darf der geneigte Leser raten, wo das Hotel liegt. Dazu die folgenden sachdienlichen Hinweise: nicht unten, nicht in der Mitte und auch nicht fast ganz oben. Sondern? Ganz oben, anders formuliert: O.B.E.N. Die gute Nachricht: gleich neben dem Hotel ist ein kleines Restaurant mit Tischen im Freien! Immer noch eine Rarität in den USA. Wir genießen das erste und zweite und Bier in vollen Züge. Ahh, jetzt kann es losgehen. Nun ja, morgen. Vielleicht. Die Zeitumstellung ... Als der letzte Schluck Bier die immer noch durstige Kehle hinabrinnt, wird es meiner inneren Uhr zu bunt. Seit Stunden jammert sie vor sich hin, aber jetzt spricht sie Klartext: "Junge, du bist über 50, es ist 3:15 Uhr morgens und Du damit seit mindestens 6 Stunden überfällig. Ab ins Bett, und zwar pronto!" Die Uhr hat natürlich vollkommen recht und um 19:00 Uhr Ortszeit, sinke ich aufs Schlafgemach, um 00:12 Uhr Ortszeit bin ich hellwach. Schlaflos in Seattle. Gut, dass es Hörbücher gibt. Den i-Pod finde ich auf Anhieb, aber wo ist der Kopfhörer? Ich will Be (Kurzform für Bernhard, aber dieses Silbenmonster bringe ich nach 37 Jahren "Be" im Leben nicht über die Lippen) - ich will also Be nicht wecken, weil ich als rücksichtsvoller Mensch so etwas niemals täte und beschließe mannhaft, das Licht NICHT einzuschalten, um den Kopfhörer zu suchen; ein Vorhaben mit der Halbwertszeit eines Silvestervorsatzes. Eine Minute später schalte das Licht ein und suche, und suche, und suche... und finde irgendwann.

Frage des Tages: Wer weiß, was ein Schichtvulkan ist? Antwort: das da:


Dieser Schichtvulkan ist mindestens 500.000 Jahre alt, 4.395 Meter hoch und heißt Mt. Rainier. Als wir mit der Fähre von Seattle nach Bremerton übersetzen, bestaunen wir den Giganten.

So, und morgen geht es dann aber wirklich los. Das Geplänkel bisher beläuft sich summasummarum 30 Kilometer.