23. September (Tag 90)

Natchez Trace, TN – Cherokee, AL

Tages-Km:  108
Gesamt-Km:  4.915
Höhenmeter:  528
Zeit im Sattel: 6:00
Wetter:  Sonnig
Temperatur: 22 – 33° C


Das ist Bill Roper. Er bereitet gerade mein Frühstück zu.


Bill und seine Frau Kathy sind Besitzer des „Fall Hollow Campground“ samt zugehörigen Restaurant. Gestern Abend bin ich noch ein paar Kilometer auf dem Natchez Trace gefahren und habe nach einem pefekten Radeltag schließlich auf dem Fall Hollow Campgrund mein Zelt aufgeschlagen. Außer mir war nur ein Camper auf dem riesigen Gelände. Gerade als ich das Abendessen zubereiten wollte (Nudeln mit Tomatensauce, Yam!), kamen die Bill und Kathy angefahren, um die Campingplatzgebühr zu kassieren. Als sie meine Kochbemühungen sahen, meinte Bill: „We are on our way to a new restaurant we don’t know yet. Ours is closed this evening. Wanna come with us?” Welche Frage! Nach einer Sight Seeing Tour durch die nahegelegene Stadt Hohenwald sind wir schließlich in einem „Beer Joint“ gelandet, in welchem erwartungsgemäß flüssige Nahrung im Vordergrund steht und ich den Stammgästen logopädische Hilfe dringend ans Herz lege. In Tennessee die Leute verstehen, ist für einen Europäer schon eine Kunst. Aber dann auch noch Stammgäste in einem Beer Joint... Mein lieber Mann. Für mich gab’s zwar leider Burger statt Nudeln, dafür aber kühles Bier statt warmes Wasser. Letztlich ein guter Tausch.

Am nächsten Morgen hat mich Bill dann noch ordentlich bekocht und dazu die Restaurantküche acht Stunden früher als vorgesehen angeworfen. Gesättigt, frisch und  mit 10 Litern Wasser/Gatorade beladen mache ich mich gegen 08:00 Uhr auf den Weg.

Der Natchez Trace
Wer meinen Blog über den Mississippi River Trail kennt, dem könnte die folgende Passage bekannt vorkommen…

"Die eigentlichen Entdecker dieses 700 Kilometer langen Weges von Nashville, Tennessee nach Natchez, Mississippi waren die Bisons, die zwischen dem salzhaltigen Boden des Cumberland Plateaus (Appalachen) und den saftigen Wiesen Zentral- und Westmississippis hin und her gewandert sind ( salt-lick-to-grazing pasture migratory route). Wo Bisons sind, können Jäger nicht weit sein. Zuerst waren es Indianer, später weiße Bisonjäger, die zusammen mit den Bisons den Natchez Trace hin und her gelaufen sind. Später, als die Bisons dann ausgerottet und der Mississippi River zum Transportweg für Waren geworden war, stellte der Natchez Trace den direkten und kürzeste Rückweg für alle dar, die per Boot ihre Waren nach New Orleans gebracht hatten und nun wieder zurück nach Zentralmississippi oder Tennessee wollten."

Hier eine der unveränderten Originalpassagen: „The old Trace“


Der Originalroute folgend hat man den Trace heute zu einem „Parkway“ mit hoher touristischer Anziehungskraft ausgebaut. Man stelle sich das vor wie einen 700 Kilometer langen Englischen Garten. Nach einer gemütlichen Maß Augustiner besteigt ihr in Schwabing euer Rad und dann geht’s durch den nicht mehr enden wollenden Englischen Garten bis  nach Florenz. Keine Kreuzungen, Ampeln oder Bahnübergänge, keine Städte, Ortschaften oder Siedlungen. Keine Traktoren, Rasenmäher oder Hunde. Trucks und Lieferwägen sind verboten: "No commercial traffic!" lautet die strenge Regel. Wer dagegen verstößt, zahlt hohe Strafen. Ergo ist der Trace – mit Ausnahme von Ballungszentren - kaum befahren und damit ein 700 Kilometer langes Radlerparadies.




Die Landschaft bleibt hügelig, die Temperaturen steigen immer weiter, die Luftfeuchtigkeit ist sowieso verdammt hoch und schließlich schwitze ich 6-spurig: von den Handballen, Ellbogen und Knien, und zwar in Rinnsalen, nicht nur lächerliches Getropfe. So sehen die Rad-Handschuhe aus. Seid froh, dass ich die Hand nicht zur Faust balle.

 

Ich trinke heute 13 Liter. Das Gemisch aus Gatorade und Wasser ist wird innerhalb kürzester Zeit so warm, dass es als Tee durchgehen könnte. Umso dankbarer bin ich, als diese Beiden anhalten und mir ein kühles Bier in die Hand drücken:

 

Die Herren chauffieren das Verpflegungsfahrzeug für eine Gruppe von Radlern, die seit 4:00 Uhr morgens unterwegs ist und innerhalb kürzester Zeit 1.000 Kilometer zurücklegen will. Sollen sie, die Verrückten. Ich für meinen Teil genieße in aller Ruhe das Bier und setze mich dann gemütlich wieder in Bewegung. Kurz darauf  überquere ich die „Stateline“ zwischen Tennessee und Alabama.

Der „Stone Talker“
Bill, der Koch und Campingplatzbesitzer, hat mich dazu verpflichtet, den „Stone Talker“ zu besuchen. „When you reach Milepost 228, turn left. Ride about 150 yards and you come to a driveway. You will see stones. A wall of stones. Thousand and thousand of stones. Walk the driveway up and the Stone Walker will come out and tell you a story you will never forget.”

Weil es jedoch sein kann, dass der geheimnisvolle Stone Talker gerade nicht zuhause ist, wenn ich antanze, hat mir Bill wenigstens die wichtigsten Informationen geliefert. Und LEIDER LEIDER LEIDER, der Stone Talker war nicht da. Im Internet konnte ich nichts finden, werde aber Bill  noch um ein wenig detailliertere Auskünfte bitten, die ich dann hier einarbeiten werde. Soviel kann ich an dieser Stelle erzählen.

Die Geschichte vom Stone Talker beginnt mit dem „Trail of Tears“, zu dem ich vergangenes Jahr im Blog zum Mississippi River Trail wie folgt berichtet habe: "Die Geschichte zum Pfad der Tränen ist schnell erzählt und schwer zu vergessen. Es handelt sich um eine weitere Strophe des alten Liedes: Einst lebten hier Indianer: Cherokee, Creek und Chickasaw. Dann kamen die weißen Siedler und verjagten die Indianer mit Gewalt. Die U.S. Army hat sie alle nach Oklahoma getrieben. Im bitterkalten Winter starben die meisten der mangelhaft ausgerüsteten und völlig unzureichend versorgten Indianer. Männer, Frauen, Kinder. Nur wenige überlebten. Eine amerikanische Variante unserer Todesmärsche. Dieser von Leid und Tod bestimmte Weg wurde zum Pfad der Tränen, dem „Trail of Tears“. Kaum war der letzte Indianer ausser Sichtweite, haben sich die weißen Siedler aus Europa den Mund abgeputzt, in die Hände gespuckt und als erstes ein schönes, neues Gotteshaus errichtet.“

Eine der Überlebenden war ein 15 Jahre altes Indianermädchen. Sie wollte sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden, konnte nicht akzeptieren, nicht mehr in Ihrer Heimat leben zu dürfen. Also floh sie und machte sich alleine auf den Rückweg. Fünf Jahre hat sie gebraucht, aber sie kam zurück in ihre Heimat. Der Stone Talker ist einer ihrer Ur-Ur-Ur-Enkel und hat als Mahnmal und zum Gedenken an ein unbeugsames 15-jähriges Indianermädchen Tausende und Abertausende von Steinen zu einem verschlungenen und vielfach verschachtelten Kunstwerk aufgeschichtet. In viele Steine sind Figuren oder Gesichter eingeritzt, immer wieder sah ich Schmuck, Federn oder Amulette. Zu schade, dass mir der Stone Talker seine Geschichte nicht selbst erzählen konnte. Seufz.

Hier ein winziger Teil der gewaltigen Mauer(n), die locker die Fläche eines Fußballfeldes in ein Labyrinth verwandeln. Da sage mir noch einmal einer, Steine seien leblos.Wer hier durch wandert, verspürt zumindest einen Hauch des Schmerzes, den der "Trail of Tears" damals den Indianern zugefügt hat.


Über all den Steinen und Mauern habe ich an diesem Ort der Stille und der Klage und des Stolzes vollkommen die Zeit aus den Augen verloren. Ich wollte heute noch den Tennessee River überqueren, den ich bei leicht erhöhtem Tempo kurz vor Einbruch der Dämmerung so eben noch erreiche:

 

Kurz nach der Brücke schlage ich mein Zelt im Wald auf, wasche mich mit zwei Litern Teewasser und versuche, bei 33 Grad, hoher Luftfeuchtigkeit und völliger Windstille einzuschlafen. Vermutlich ist mir das irgendwann sogar gelungen.

Till Senn

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