30. September (Tag 97)

Pausentag am Golf von Mexiko
Welch eine Wohltat! Ausschlafen, ein reichhaltiges Frühstück und den ganzen Tag keine elenden Holzlaster. Nicht einmal ein Fahrrad! Das war heute schon beim Friseur (Waschen, Legen, Fönen), dann bei der Pediküre (Reifen-Check und mal wieder ein wenig Luft nachpumpen) und ist im Moment in ambulanter Behandlung beim Rad-Doktor gleich nebenan (Bremsen und Gänge prüfen/einstellen, neue Kette. Die dritte seit dem Beginn der Tour Ende Juni!)

Ich widme mich heute überwiegend beruflichen Notwendigkeiten und der Feinplanung der restlichen Strecke.


Rund 1.700 Kilometer sind es noch, wenn ich mich nicht (wieder mal) verrechnet habe. Morgen geht’s auch schon wieder weiter. Leider werde ich nur ein kurzes Stück direkt am Golf von Mexiko entlang fahren, bevor ich wieder nach Nord-Osten abschwenke. Dafür bin ich aber bald schon am Atlantik – und dem werde ich bis Key West nicht mehr von der Seite weichen.


Till Senn

29. September (Tag 96)

Grove Hill, AL – Mobile, AL
Underground Railroad Trail – Tag 4

Tages-Km: 132
Gesamt-Km: 5.591
Höhenmeter: 908
Zeit im Sattel: 7:09
Wetter: heiter
Temperatur: 17 – 24° C



Geschafft
Ich bin geschafft und ich habe es geschafft. Ich bin am Golf von Mexiko. YEAH! In nur vier Tagen von Tupelo, Mississippi bis Mobile, Alabama: 566 Kilometer, 3.299 Höhenmeter und 30 Stunden und 36 Minuten im Sattel. Puh... Meine Meinung zu diesem Abschnitt des „Underground Railroad Trail“: Völliger Irrsinn.

Wie geplant bin ich heute Morgen um 07:30 Uhr los geradelt. Nach vier Kilometern habe ich das Rad abgestellt und mich gefragt, ob ich verrückt bin. Zweimal hätten mich rasende Holztransporter beinahe zermatscht. Aus – das mache ich nicht länger mit. Das ist der totale Schwachsinn! Ich fahre also zurück, suche mir am Ortsende von Grove Hill eine passende Stelle und versuche, einen PickUp anzuhalten, damit er mich bis „Perdue Hill“ (ca. 35 Kilometer) mitnimmt. Dort verlässt der Underground Railroad Trail den Todes-Highway 82 und die Chancen auf lebensungefährliches Radlen steigen wieder. Nach 30 Minuten und rund 50 PickUps gebe ich auf und radle zurück zum Motel, um den Motelbesitzer zu fragen, ob er mich für 50 Dollar 35 Kilometer weit fährt. „Leider nein“, sagt er, „ich muß zur Arbeit“. Und Nein, er kenne auch niemanden, der einen PickUp und etwas Zeit habe und Taxis gäbe es im Umkreis von 100 Kilometer auch nicht. Es täte ihm wirklich leid, aber ....

Ich nehme mir vor, jedes einzelne Haus der Reihe nach abzuklappern und zu fragen, ob mich jemand für 50 Dollar 35 Kilometer weit fährt. 2 von 3 Leuten sind hier arbeitslos, aber jeder hat einen PickUp. Das MUSS doch klappen! Dann fällt mir die Visitenkarte von Willy ein. Willy, der ehemalige Soldat. Willy, der lange in Deutschland stationiert war. Willy, mit dem ich mich gestern Abend sehr angeregt unterhalten habe, als er gerade das Motelgelände verlassen wollte und ich angekommen bin. Ich rufe die Nummer an - tut-tut - Willy hebt nach dem zweiten Klingeln ab und ist 10 Minuten später zur Stelle. Ich verlade Rad, Anhänger und Gepäck in seinen Transporter und eine halbe Stunde später bin ich in Perdue Hill. (Thank you Willy! You might have saved my live but you certainly saved me a nervous breakdown.)


Der Rest der letzten Underground Railroad Etappe war wie gehabt: Hügel, Hügel, Hügel und immer noch viel zu viele Trucks bzw. Autos, die allesamt mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit durch die unübersichtlichen Kurven brettern. NULL CHANCE, auch nur annähernd rechtzeitig zu bremsen, wenn das mal nötig sein sollte. Ich begreife das nicht. Tief durchatmen. Ich habe es jetzt hinter mir und will nur noch nach vorne blicken und nie mehr in Alabama radeln.

Als Ziel habe ich mir einen Campingplatz in Stockton ausgesucht. Bis Mobile wären es von dort noch rund 45 Kilometer und das kann ich nach dem verspäteten Start heute nicht mehr schaffen. Also morgen und in aller Ruhe und Gemütlichkeit und heute mal wieder zelten. Als ich dann in Stockton ankomme, kann ich den Campingplatz nicht finden. Als ich versuche, Autofahrer anzuhalten, um nach dem Weg zu fragen, bleibt niemand stehen. Offenbar haben alle Angst, ich könnte sie überfallen. NIEMAND hält an, jeder fährt an mir vorbei und zwei überfahren mich fast. „OK“, denke ich mir, „dann ist die Entscheidung gefallen. Du fährst jetzt mit Vollgas nach Mobile.“ Zu diesem Zeitpunkt war es 16:00 Uhr. Zwei Stunden für 45 Kilometer in hügligem Geländer und mit gut 50 Kilogramm Gepäck. Warum nur zwei Stunden? Weil die Sonne um 18:00 Uhr untergeht und kurz darauf ist es stockdunkel. Ich habe die 45 Kilometer 1:53 Stunden geschafft, aber dafür bin jetzt vollkommen platt und „schwach wie eine Flasche leer“. Aber auch sehr erleichtert, denn meine schlimmsten Verletzungen bislang sind Mückenstiche - und soll es bleiben. Das folgende Foto habe ich noch schnell geschossen, bevor ich zum Hotel abgebogen bin. Auch wenn es nur schwer zu erkennen ist, aber da ist ein Meer. DAS Meer, der Golf von Mexiko.


Ob ich morgen einen Arbeits-Pausentag einlege oder noch eine kleinere Etappe bis zum nächsten Arbeitspausen-Hotel einlege, entscheide ich morgen. Heute entscheide ich nichts mehr sondern will nur noch schlafen, schlafen, schlafen. Und der Wecker schläft auch!

Till Senn

28. September (Tag 95)

Linden, AL – Grove Hill, AL
Underground Railroad Trail – Tag 3

Tages-Km:  147
Gesamt-Km:  5.460
Höhenmeter:  1.267
Zeit im Sattel: 9:27
Wetter: heiter
Temperatur:  17 – 24° C



Auflösung Filmzitat:
"Definiere Ironie: Ein Haufen Idioten, die in einem Flugzeug zu einem Song tanzen, der durch eine Band berühmt wurde, die bei einem Flugzeugabsturz umkam."
... stammt aus dem Film „Con Air“

Am Limit
Liebe Leute, ich bin völlig fertig heute. Das reimt sich und was sich reimt, ist laut Pumuckl gut. Nun denn. Mein Dickschädel brockt mir derzeit einiges ein. Ich WILL unbedingt so schnell wie möglich raus aus Alabama und hin zum Golf von Mexiko. Ich will das Meer sehen, das mich anzieht wie ein überdimensionaler Magnet. Anfang Juli habe ich – mit dem Radl-Be – in Vancouver, Kanada dem Pazifik den Rücken gekehrt. Seither fiebere ich dem Golf von Mexiko entgegen. Jetzt habe ich ihn fast erreicht und nur die blöden alabamischen  Hügel und Holz-Laster machen mir dabei das Leben schwer.

Mit 9,5 Stunden reiner Radelzeit (unterwegs war ich heute über 11 Stunden) , 1.267 Höhenmetern und 147 Kilometern hat auf den letzten 30 Kilometern eindeutig der Wille den Körper beherrscht. Körperlich war ich der Katatonie nahe. Mit 5.460 Gesamt-Kilometern habe ich mit der heutigen Etappe auch meine ersten USA-Durchquerung aus dem Jahre 2007 übertroffen. Die damalige Reise vom Pazifik zum Atlantik war nach 5.328 Kilometer zu Ende. 

Ohne die bisherigen drei Monate auf dem Rad könnte ich auch nicht so fahren, wie ich es die letzten Tage tue.  Ich bin selbst erstaunt über das, was der Körper schafft und die minimale Regenerationszeit, die er benötigt, um die nächste Etappe in Angriff zu nehmen. Mit Blog und  Kochen und Essen und Wäsche waschen und Rad pflegen und überhaupt komme ich selten vor 23:00 Uhr ins Bett. Der Wecker läutet um 6:00 Uhr. Aber ich fühle mich nach wie vor von Tag zu Tag fitter. Möge es so bleiben!  Der Schlüssel ist derzeit das Essen. Ich koche fast jeden Tag abends 300 Gramm (!!!) Nudeln, die ich dann auch esse. Morgens zwinge ich mich dazu, ausgiebigst zu frühstücken. Wenns sein muß, wieder Nudeln.  Ich bringe es nicht über mich, diesen frittierten Mist zu verschlingen, mit dem sich die Amis ihre Arterien  zukleistern. Es ist erstaunlich, welche Gier der Körper nach dem entwickelt, das er braucht. Und das sind primär Kohlenhydrate, die Briketts der internen Verbrennung. Die letzten Kilometer heute habe ich schon Papierschnipsel in den Ofen werfen müssen, damit das Feuer nicht ausgeht. Jetzt, um 22:51 Uhr Ortszeit glimmt die Glut einer weiteren Riesenportion Nudeln vor sich hin.

Herrschaften, so war das heute die meiste Zeit:

 

Das Bild ist keine Fotomontage! So sah es etwa 110 der heutigen 147 Kilometer aus. Steil runter, steil rauf. SOOOO steil rauf und SOOOO steil runter. Auf und ab und auf und ab. Wahnsinn! Ich sage euch: WAHNSINN!  Schon nach 15 Kilometer möchtest Du das Rad einfach nur in den Graben werfen und dich am nächsten Baum aufhängen. Aber dann schaltet sich der Dickkopf ein und sagt: „Junge, spinn Dich aus!“ Dann mit Angies Stimme: „Du bist nicht zum Vergnügen hier!“ Also fahre ich weiter, immer weiter. Manchmal wünschte ich, ich könnte heulen, aber als Indianer kenne ich keinen Schmerz; mir fehlen nun mal die entsprechenden Enzyme.

Was mich immer wieder erfreut, ist der Humor der Amerikaner. Nehmen wir zum Beispiel diese Methodisten:


Genau hinsehen... JA, das ist der Friedhof. Na DAS wäre mal ein ruhiger Zeltplatz gewesen. Leider 107 Kilometer vor dem Tagesziel.

An einer Tanke tanke ich Flüssigkeit und Kohlenhydrate (und ein wenig Twix und Snickers). Der Alabamer neben mir ist nicht besonders gesprächig, was mich aber nicht weiter stört. Wir Männer starren nun mal gerne schweigend ins Lagerfeuer. Uns fehlt das Plapper-Gen. In den fünf Minuten, in denen ich hier sitze, esse und trinke, reden wir kein Wort. Als ich mich wieder auf den Weg mache, verabschieden wir uns wie Brüder voneinander.

 

Auf dem Holzweg
Als ich heute an einer Kreuzung eine kurze Pause eingelegt habe, sind innerhalb kürzester Zeit zig Holztransporter an mir vorbeigerast. Und zwar aus allen Richtungen: von Nord, Ost, West und Ost. Das hat mein Logikzentrum in Unruhe versetzt und ich habe anschließend einen Gutteil des heutigen Tages darüber gebrütet, was das wohl für Gründe haben kann. Warum bringt ein Laster Holz von Süden nach Norden und ein anderer Holz von Norden nach Süden. Dito mit Ost-West. Grübel.

Möglichkeit A:
Das Arbeitsamt von Alabama hat ein Programm für Holztransporter-Fahrer aufgelegt. Jetzt fahren Tausende von Alabamern mit Führerschein dicke Holzlaster kreuz und quer durch die Gegend und das Arbeitsamt und die Trucker sind glücklich. Das Holz wird einmal auf- und nie wieder abgeladen, nur die Fahrer wechseln sich laufend ab. Auf diese Weise schafft die Politik die Quadratur des Kreises: die Leute sind VON der Straße, indem sie AUF der Straße sind.

Möglichkeit B:
Das Arbeitsamt von Alabama hat ein Programm für Holztransporter-Fahrer aufgelegt, aber ein findiges Kurierunternehmen für pharmazeutische Produkte hat alle Holztransporter Alabamas aufgekauft und finanziert auf Kosten des alabamischen Arbeitsamtes jetzt die eigenen Kurierdienste. Als Holzlasterfahrer getarnte Pharmakuriere düsen auf Kosten des Steuerzahlers durchs Land. Und wenn der Kurier das Aspirin überreicht, fragt er vielleicht noch „Und -brauch ma no a bissal a Hoiz füa’s Lagerfeuer?“

Möglichkeit C:
Im Norden Alabamas holzt man ab, verlädt auf LKWs und lässt die Baumstämme nach Süden transportieren. Kurz darauf stellt man fest, dass der Wald nicht mehr da ist, wo er gestern noch war. PANIK! Kein Wald mehr, um Gottes willen! Also bestellt man Wald aus dem Süden, wo sofort Bäume gefällt, auf LKWs verladen und nach Norden transportiert werden. Woraufhin man im Süden feststellt, dass plötzlich kein Wald mehr usw.

Möglichkeit D:
Ich bin Opfer einer optischen Täuschung. So wie im Film „Top Secret“, wo eine nicht mehr enden wollende Kolonne aus Militärfahrzeugen an zwei Wachposten vorbeidonnert. Als die Kamera irgendwann ein wenig auf Distanz geht, sieht man, dass es nur eine Handvoll Autos sind, die immer im Kreis fahren, was man aber in der Nahaufnahme nicht sieht. 

So, und jetzt ist Schluss für heute.

Till Senn

27. September (Tag 94)

Aliceville, AL – Linden, AL

Underground Railroad Trail – Tag 2

Tages-Km: 135
Gesamt-Km: 5.312
Höhenmeter: 562
Zeit im Sattel: 7:00
Wetter: bewölkt, heiter bis wolkig
Temperatur: 17 – 24° C



Sweet Home Alabama
Heute muß ich schweren Herzens einen Mythos zu Grabe tragen, den ich seit m einer Jugendzeit mit mir herumgetragen habe. In den 70ern habe ich die „Allman Brothers“ vergöttert. Ja, ich weiß, „Sweet Home Alabama“ ist von Lynyrd Skynyrd, aber das ist ja nur der Titel dieses Blogeintrages – im Moment geht’s aber um die Allman Brothers. Hier das Albumcover von "Live at Fillmore East":


 Ich war bis heute der Überzeugung, dass Duane und Gegg Allman, Berry Oakley und der Rest der Brothers aus Alabama stammen. Falsch, sie kommen aus dem Nachbarstaat Georgia. All die harten Radel-Kilometer durch Alabama waren für mich Allman-Kilometer, und jetzt kommen die Jungs aus GEORGIA! Was soll’s - die Allmann Brothers waren eine tragende Säule des „Southern Rock“ der 70er Jahre. In meiner Funktion als 15-jähriger Bassist der Band „Karies“ war Berry Oakley mein großes Vorbild. Wer erinnert sich noch an „Live At Fillmore East“ mit Stücken wie Statesboro Blues, Stormy Monday oder In Memory of Elizabeth Reed? Als Bassist war für mich One way out natürlich ein Muss. Reinhören? (http://www.youtube.com/watch?v=zm15lP8B3Nw)

Dann der Schock: Duane Allmann stirbt 1971 an den Folgen eines Motorradunfalls. Kurz darauf erscheint das Album „Eat a Peach“, an dem Duan noch mitgearbeitet hat: Melissa, Mountain Jam, Trouble no more – Monumente der damaligen Rockmusik, jedenfalls für mich. Dann stirbt MEIN Berry Oakley, ebenfalls an den Folgen eines Motorradunfalls ( fast an derselben Stelle, an der auch Duan Allmann verunglückt ist.) Ich erinnere mich heute noch (bzw. WIEDER), wie mich das damals getroffen hat. Mein Idol tot. Mit meinen 15 Jahren war der Tod damals weiter entfernt als die Heimatgalaxie der Maahks – was jetzt auch wieder nur die Perry Rhodan Fans einordnen können. Für alle anderen gilt: WEIT WEG.

Mir sind die Allman Brothers während meiner jetzigen Radreise durch Alabama (Georgia hin oder her) noch einmal ganz nahe gekommen. Weil ich in den vielen Stunden im Sattel auch viel vor mich hin träume oder sinniere, werden meine Radreisen immer auch zu Zeitreisen. In meinem Alter verständlicherweise weniger zu Ausflügen in die Zukunft als vielmehr in die Vergangenheit. Im Augenblick - hier und jetzt, während ich diese Zeilen tippe - höre ich jedenfalls mit großem Vergnügen und aktiver Sing- und Trommelbeteilugung (und vermutlich sehr zum Ärgernis der Zimmernachbarn) das Album „Live at Filmore East“. Motorradunfall oder Georgia hin oder her: heute Abend sind wir wieder zusammen, Duane und Berry und ich.

“Lord, I was born a ramblin' man
Trying to make a living and doing the best I can
When it's time for leaving, I hope you'll understand
That I was born a rambling man


My father was a gambler down in Georgia
He wound up on the wrong end of a gun
And I was born in the back seat of a Greyhound bus
Rolling down highway forty-one”

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So, und jetzt zur heutigen Etappe. Das trübe Wetter passt zu meiner Stimmung, als ich um 6:10 Uhr aufwache. Trucks dröhnen am Motel vorbei. Einer nach dem andren. WRUUUU-MMMM, WRUUUU-MMMM, WRUUUUUU-MMMMM.


Hilft nichts. Augen auf und durch. Die ersten 15 Kilometer sind NOCH schlimmer als gestern. Grauenhaft. Aber dann verlässt die Route den Highway 17 und auf einmal ist tatsächlich alles anders. Ruhig, beschaulich, angenehm. Es dauert eine ganze Weile, bis ich das Highway-Trauma abschütteln kann und nicht mehr alle 1,3 Sekunden panisch in den Rückspiegel gucke. Ich bin auf einmal tatsächlich allein unterwegs. Träumen ist trotzdem nicht angesagt, da die Straße – nun ja – so ihre Marotten hat.


Alles egal, solange keine Holztransporter mit (mindestens) 80 Km/h mit weniger als einem halben Meter Abstand an einem vorbei donnern. Meine Nackenmuskulatur entpannt sich langsam und der verkrampfte Klammergriff an den Lenker lockert sich. Die Sinne lösen sich aus ihrer Erstarrung und nehmen ihren Dienst wieder auf. Ich entfliehe dem lähmenden inneren Tunnel und mache das, wofür ich hier her gekommen bin: ich genieße das Radeln durch das ländliche Alabama. Es ist hügelig und gelegentlich werde ich mit einer Aussicht belohnt. Wer hätte gedacht, dass Alabama – wenige Hundert Kilometer nördlich der Golfküste - aussieht wie die Gegend zwischen Rosenheim und Obing?


Alabama ist für USA-Touristen nicht unbedingt die Nr. 1 auf der Liste und das Alabama abseits der (dünn gesäten) Nord-Süd-Gefälle ist auch in den USA enorm. Ich war erschüttert, in welch armseligen Hütten und Behausungen viele Leute hier leben. Fast nur Trailer bzw. Trailersiedlungen, richtige Häuser haben Seltenheitswert. Die Dörfer sind (meinem Empfinden nach) völlig heruntergekommen und so lebendig wie eine Eintagsfliege um 23:59 Uhr.






Nichtsdestotrotz waren die Kilometer 16 bis 107 schön zu radeln. Ab Kilometer 108 war ich wieder in der Hölle. Schmale Straßen und dichter Schwerverkehr in beiden Richtungen. Vor allem Trucks, die Holz transportieren (Log Trucks). So ein Truck passt gerade einmal auf die Fahrbahn. Sicherheitsraum nach links und rechts – vergiss es. Immer wieder sieht man abgebrochene Rückspiegel auf dem Mittelstreifen, weil sich entgegenkommende Fahrzeuge häufig touchieren. Der pure Horror für den Radfahrer. Im Idealfall gab es (zweimal für je drei Kilometer) diesen Seitenstreifen.


Die Rumble Strips sind schön zu erkennen, aber glaubt mir: Ich bin zähneklappernd, aber frohlockend über diesen Hindernisparcour geritten, denn ich war AUSSERHALB der Reichweite der Monster-Trucks. Der Normalfall sah nämlich so aus:


Klar, dass ich für dieses Foto einen Holzlaster OHNE Ladung erwischt habe, der ausserdem noch leicht zur Straßenmitte ausgewichen ist, als er mich mit dem Fotoapparat am Straßenrand erblickt hat. Im Normalfall fährt der Laster exakt an der weißen Linie entlang und die Ladung (siehe die Stahlträger) ragt links und rechts ein gutes Stück über die Fahrerkabine hinaus. Der pure Wahnsinn.

Ich bin heute etwa 30 Mal mit Schmackes ins Bankett, den Straßengraben, den Wald, die Wiese, den Sumpf, wenn gerade wieder einer dieser Trucks zum Überholen angesetzt hat und im selben Moment Gegenverkehr um die Kurve/über den Hügel aufgetaucht ist. Was soll der arme Trucker auch machen? Fliegen kann er nicht. Kein einziger LKW hat mich von der Straße gehupt oder versucht, mich in den Graben zu drängen. (Das blieb bislang nur einigen Pickups vorbehalten). Die Trucker tun ihr Bestes, aber Massenträgheit ist Massenträgheit und sie können nicht zaubern. Radler gehören nicht auf solche Truck-Routen. Ich verstehe nicht, wie die Adventure Cycling Association derartig (lebens-)gefährliche Strecken zur Fahrradroute erklärt. Gut, sie weisen auf die Problematik hin, aber trotzdem: das ist viel zu gefährlich. Schade.

So – jetzt sind es nur noch drei Tagesetappen und ich bin bzw. wäre am Golf von Mexiko. Morgen entscheide ich spontan. Ich radle für mein Leben gern, aber nicht gern um mein Leben. Wenn es wieder ein Spießrutenlauf wird, breche das Experiment „Underground Railroad Trail“ ab und „trampe“ nach Süden. Pickups mit freundlichen Fahrern gibt es genug.

Weils so schön zum Titel des heutigen Blog passt: mal wieder ein Filmzitat zum Erraten. Aus welchem Film stammt das Zitat:

"Definiere Ironie: Ein Haufen Idioten, die in einem Flugzeug zu einem Song tanzen, der durch eine Band berühmt wurde, die bei einem Flugzeugabsturz umkam."

Till Senn

26. September (Tag 93)

Tupelo, MS – Aliceville, AL
Underground Railroad Trail – Tag 1

Hinweis: Der 25. September (Tag 92) war ein Pausentag, an dem nichts blog-relevantes passiert ist. Deshalb fehlt dieser Tag in der Datumsliste und es geht mit dem 26. September (Tag 93) weiter.

Tages-Km: 152
Gesamt-Km: 5.177
Höhenmeter: 633
Zeit im Sattel: 8:01
Wetter: Nieselregen, bewölkt, sonnig
Temperatur: 19 – 26° C



Underground Railroad
Es war einmal im Jahre 1865: In Leipzig gründet man den „Allgemeinen Deutschen Frauenverein“, die Wiener Straßenbahn nimmt ihren Betrieb auf, Chromstahl wird patentiert, „Max und Moriz“ erscheint, die Heilsarmee wird gegründet, das Matterhorn wird erstmals bezwungen, die BASF wird gegründet - und in den USA verbietet am 18. Dezember 1865 der 13. Verfassungszusatz die Sklaverei. (Sechs Tage später entsteht der Ku Klux Klan.)

Die 1780 gegründete „Underground Railroad“ war ein Netzwerk aus mutigen Menschen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Sklaven bei ihrer Flucht in das sichere Kanada zu helfen. Laut Wikipedia verhalf man allein zwischen 1810 und 1850 mehr als 100.000 Sklaven zu Sicherheit und Freiheit. Fluchthelfer gaben sich beispielsweise als Sklaven aus, kontaktierten die „echten“ Sklaven und brachten diese dann im ersten Schritt vom Gelände des Sklavenbesitzers und versteckten sie in alten Bahnhöfen, Scheunen, Schuppen oder in Häusern von Mitgliedern. Die kritische Phase war immer zu Beginn der Flucht. Kopfgeldjäger (1865 - Kopfgeldjäger!!!) hatten Hochkonjunktur. Sie abzuschütteln war ein entscheidender Schritt. Die Sklaven wurden von Fluchthelfer(gruppe) zu Fluchthelfer(gruppe) auf verschlungenen Pfaden langsam nach Norden „durchgereicht“. Tagsüber Verstecken, nachts Flucht.



Die wohl berühmteste Fluchthelferin war die ehemalige Sklavin Harriet Tubman. Sklavenbesitzer konnten testamentarisch verfügen, ob und wann ein Sklave in die Freiheit entlassen wird. Harriets Besitzer war der Meinung, dass das mit 45 Jahren in Ordnung wäre. Dann wechselte die Sklavin den Besitzer und die neuen Besitzer scherten sich einen Dreck um das Testament und die Freiheit mit 45. Als Sklave hatte man keinerlei Rechtsmittel, das Testament einzuklagen. (Wenn ich hier ständig von „Besitzern“ schreibe, würgt es mich regelrecht. Aber es war so, also schreibe ich so.) 1849 konnte Harriet erfolgreich fliehen. Sie war in Sicherheit, was sie jedoch nicht daran hinderte, noch neunzehn Mal zurück in die Unsicherheit zu kommen, um anderen Sklaven bei der Flucht zu helfen. Hätte man sie erwischt, wäre sie wieder als Sklavin bei ihrem ehemaligen Besitzer gelandet.

Quelle: Wikipedia

In Wikipedia ist zu lesen:
„Im Alter von fünf oder sechs Jahren sah ihr Besitzer Harriet Tubman als arbeitsfähig an und vermietete sie mehrfach an andere Sklavenhalter. Ihre erste „Leihbesitzerin“ war eine Frau mit dem Namen „Miss Susan“, in deren Diensten Harriet Tubman auf ein Baby aufpassen sollte, wenn es in seiner Wiege schlief. Wachte das Kind auf und schrie, wurde Harriet Tubman dafür mit der Peitsche bestraft. Harriet Tubman berichtete später, das sie sich an einen Tag erinnere, an dem sie noch vor dem Frühstück nicht weniger als fünf Mal auf diese Weise bestraft wurde. Sie wies noch am Ende ihres Lebens Narben von diesen Strafen auf. Als ihr nach dem Diebstahl von etwas Zucker erneut eine Bestrafung drohte, versteckte sie sich für fünf Tage im Schweinestall eines Nachbarn, bis der Hunger sie zwang, in Miss Susans Haus zurückzukehren. Während sie an den Plantagenbesitzer James Cook ausgeliehen war musste sie in den nahegelegenen Sümpfen die für Bisamratten aufgestellten Fallen überprüfen. Selbst eine Masernerkrankung war kein Anlass, sie von dieser Arbeit zu entbinden, die sie unter anderem dazu zwang, durch Wasser zu waten, das ihr bis zur Hüfte reichte. Als sie schließlich so schwer erkrankte, dass sie arbeitsunfähig war, wurde sie wieder zu ihrem Besitzer zurückgeschickt. Kurz nachdem ihre Mutter sie wieder gesund gepflegt hatte, vermietete man sie erneut für Plantagenarbeiten an verschiedene Sklavenbesitzer.“


„Als Teenager erlitt Harriet Tubman eine schwerwiegende Kopfverletzung, die sie für den Rest ihres Lebens beeinträchtigen sollte. Sie war zu einem Laden geschickt worden, um Vorräte zu kaufen. Dort traf sie auf einen Sklaven einer anderen Plantagenbesitzerfamilie, der sich ohne Erlaubnis von der Feldarbeit entfernt hatte. Sein hinzukommender Aufseher verlangte von Harriet Tubman, dass sie ihm helfe, den Sklaven zu fesseln. Als sie sich weigerte und der Sklave fortlief, griff der Aufseher ein zwei Pfund schweres Gewicht von der Ladentheke, warf damit nach dem Sklaven, verfehlte aber sein Ziel und traf statt dessen Harriet Tubman am Kopf. Sie erzählte später, es habe ihren Schädel gebrochen und führte es auf ihr dickes Haar zurück, dass sie überhaupt überlebte. Bewusstlos und blutend wurde sie zu der Plantage zurückgebracht, auf der sie zum Zeitpunkt des Vorfalls arbeitete. Zwei Tage lang ließ man sie ohne weitere medizinische Versorgung auf der Bank eines Webstuhls liegen. Danach wurde sie wieder zur Feldarbeit zurückgeschickt. Blut und Schweiß sei ihr immer noch über das Gesicht gelaufen, so dass sie kaum sehen konnte, beschrieb Harriet Tubman es später selbst. Mit der Begründung, dass sie keinen Pfennig wert sei, schickte ihr Leihbesitzer sie schließlich zu Edward Brodess zurück, der erfolglos versuchte, sie zu verkaufen.“

Die Adventure Cycling Association hat vor ein paar Jahren den „Underground Railroad Trail“ jüngsten Fern-Radreiseweg ins Leben gerufen. Von Mobile in Alabama bis hinauf nach Kanada führt die Fernstrecke entlang der damaligen Haupt-Fluchtroute der Sklaven. Ich fahre einen knapp 700 Kilometer langen Abschnitt in „falscher“ Richtung, also von Norden nach Süden. Die heutige erste Etappe war, ich kann es leider nicht anders sagen: SCHEUSSLICH. Vergessen, abhaken, Mund abputzen, vorwärts blicken. Ich war überwiegend damit beschäftigt, nicht unter die Räder der motorisierten Mitbrüder und Mitschwestern zu geraten. Wie das werden soll, wenn morgen noch der Berufsverkehr und die Trucks dazukommen, weiß ich nicht. Aber wir werden sehen. Wenn es mir zu gefährlich wird, lasse ich mir einen Plan B einfallen.

Einer der wenigen Lichtblicke heute waren die zwanzig Sekunden, in denen niemand schnell und nahe an mir vorbeigerauscht ist und ich in aller Ruhe dieses Bild aufnehmen konnte.


Ich bin also nach der ersten kurzen Stippvisite vorgestern (Cherokee, Alabama) und dem folgenden 2-tägigen Gastspiel in Tupelo, Mississippi jetzt zum zweiten Mal in Alabama. In spätestens fünf Tagen will ich in Mobile am Golf von Mexiko sein.

Till Senn

Joe's weekly

Zwischenbilanz:

Rot = geradelt
Blau = (Miet)Auto
Grau = verbleibende Strecke

Gesamt-KM: 5.025
Höhenmeter: 28.149
Zeit im Sattel: 297 Stunden, 3 Minuten

Pannenstatistik:
7 Platten (Anhänger)
0 Platten (Fahrrad)

24. September (Tag 91)

Cherokee, Al – Tupelo, MS

Tages-Km:  111
Gesamt-Km:  5.025
Höhenmeter: 565
Zeit im Sattel: 06:33
Wetter: sonnig
Temperatur:  22 – 37° C

 

Hitzeschlacht
In der Nacht kühlt es nur wenig ab. Nachdem ich das Zelt abgebaut und das Rad reisefertig gepackt habe, bin ich bereits schweißnass. Heute soll es bis zu 36 Grad heiß werden. Deshalb bin ich schon um 06:10 Uhr unterwegs und erreiche bald die Staatsgrenze zwischen Alabama und Mississippi.

 

Trinken, Trinken, Trinken. Gut, dass entlang des Natchez Trace immer wieder Rastplätze mit Trinkwassersäulen auftauchen. Eine gute Gelegenheit, warmes durch lauwarmes Wasser zu ersetzen. Mit der linken Hand drückt man den Knopf und mit der rechten hält man die Flasche in die zaghafte Fontäne. Eine ziemlich unruhige Angelegenheit bei böigem Wind.


Normalerweise will ich euch ja nicht mit derartig ekligem Zeug belästigen, aber manchmal muß es sein. So sah meine Radhose am Ende dieses schweißtreibenden Tages aus. Ich könnte glatt als menschliche Entsalzungsanlage durchgehen. 

Ziemlich erledigt komme ich am Nachmittag in Tupelo, Mississippi an, dem Geburtsort von Elvis Presley. Hier verlasse ich schweren Herzens den Nachtez Trace. Ab übermorgen fahre ich - in der "falschen Richtung" - auf dem „Underground Railroad Trail“ weiter, der ehemaligen Fluchtroute der Sklaven von Mobile, Alabama hinauf nach Maine an der Atlantikküste. Morgen lege ich einen Arbeits-Pausentag ein und habe mir nach fünf harten Tagen auf dem Rad für diesen Zweck ein schönes Hotelzimmer reserviert. Der Parkplatz vor dem Hotel strahlt die Hitze zurück und ich habe das Gefühl, mitten in einem Backofen zu sein, als ich das Rad auf den marmornen Hoteleingang zuschiebe. Bin gespannt, was die zu meiner Radhose sagen.

Mann, freue ich mich auf die Klimaanlage und die zwei kühlen Bier, die ich vor zwei Minuten in der Tanke um die Ecke gekauft habe. Mann, bin ich geschafft.

Till Senn

23. September (Tag 90)

Natchez Trace, TN – Cherokee, AL

Tages-Km:  108
Gesamt-Km:  4.915
Höhenmeter:  528
Zeit im Sattel: 6:00
Wetter:  Sonnig
Temperatur: 22 – 33° C


Das ist Bill Roper. Er bereitet gerade mein Frühstück zu.


Bill und seine Frau Kathy sind Besitzer des „Fall Hollow Campground“ samt zugehörigen Restaurant. Gestern Abend bin ich noch ein paar Kilometer auf dem Natchez Trace gefahren und habe nach einem pefekten Radeltag schließlich auf dem Fall Hollow Campgrund mein Zelt aufgeschlagen. Außer mir war nur ein Camper auf dem riesigen Gelände. Gerade als ich das Abendessen zubereiten wollte (Nudeln mit Tomatensauce, Yam!), kamen die Bill und Kathy angefahren, um die Campingplatzgebühr zu kassieren. Als sie meine Kochbemühungen sahen, meinte Bill: „We are on our way to a new restaurant we don’t know yet. Ours is closed this evening. Wanna come with us?” Welche Frage! Nach einer Sight Seeing Tour durch die nahegelegene Stadt Hohenwald sind wir schließlich in einem „Beer Joint“ gelandet, in welchem erwartungsgemäß flüssige Nahrung im Vordergrund steht und ich den Stammgästen logopädische Hilfe dringend ans Herz lege. In Tennessee die Leute verstehen, ist für einen Europäer schon eine Kunst. Aber dann auch noch Stammgäste in einem Beer Joint... Mein lieber Mann. Für mich gab’s zwar leider Burger statt Nudeln, dafür aber kühles Bier statt warmes Wasser. Letztlich ein guter Tausch.

Am nächsten Morgen hat mich Bill dann noch ordentlich bekocht und dazu die Restaurantküche acht Stunden früher als vorgesehen angeworfen. Gesättigt, frisch und  mit 10 Litern Wasser/Gatorade beladen mache ich mich gegen 08:00 Uhr auf den Weg.

Der Natchez Trace
Wer meinen Blog über den Mississippi River Trail kennt, dem könnte die folgende Passage bekannt vorkommen…

"Die eigentlichen Entdecker dieses 700 Kilometer langen Weges von Nashville, Tennessee nach Natchez, Mississippi waren die Bisons, die zwischen dem salzhaltigen Boden des Cumberland Plateaus (Appalachen) und den saftigen Wiesen Zentral- und Westmississippis hin und her gewandert sind ( salt-lick-to-grazing pasture migratory route). Wo Bisons sind, können Jäger nicht weit sein. Zuerst waren es Indianer, später weiße Bisonjäger, die zusammen mit den Bisons den Natchez Trace hin und her gelaufen sind. Später, als die Bisons dann ausgerottet und der Mississippi River zum Transportweg für Waren geworden war, stellte der Natchez Trace den direkten und kürzeste Rückweg für alle dar, die per Boot ihre Waren nach New Orleans gebracht hatten und nun wieder zurück nach Zentralmississippi oder Tennessee wollten."

Hier eine der unveränderten Originalpassagen: „The old Trace“


Der Originalroute folgend hat man den Trace heute zu einem „Parkway“ mit hoher touristischer Anziehungskraft ausgebaut. Man stelle sich das vor wie einen 700 Kilometer langen Englischen Garten. Nach einer gemütlichen Maß Augustiner besteigt ihr in Schwabing euer Rad und dann geht’s durch den nicht mehr enden wollenden Englischen Garten bis  nach Florenz. Keine Kreuzungen, Ampeln oder Bahnübergänge, keine Städte, Ortschaften oder Siedlungen. Keine Traktoren, Rasenmäher oder Hunde. Trucks und Lieferwägen sind verboten: "No commercial traffic!" lautet die strenge Regel. Wer dagegen verstößt, zahlt hohe Strafen. Ergo ist der Trace – mit Ausnahme von Ballungszentren - kaum befahren und damit ein 700 Kilometer langes Radlerparadies.




Die Landschaft bleibt hügelig, die Temperaturen steigen immer weiter, die Luftfeuchtigkeit ist sowieso verdammt hoch und schließlich schwitze ich 6-spurig: von den Handballen, Ellbogen und Knien, und zwar in Rinnsalen, nicht nur lächerliches Getropfe. So sehen die Rad-Handschuhe aus. Seid froh, dass ich die Hand nicht zur Faust balle.

 

Ich trinke heute 13 Liter. Das Gemisch aus Gatorade und Wasser ist wird innerhalb kürzester Zeit so warm, dass es als Tee durchgehen könnte. Umso dankbarer bin ich, als diese Beiden anhalten und mir ein kühles Bier in die Hand drücken:

 

Die Herren chauffieren das Verpflegungsfahrzeug für eine Gruppe von Radlern, die seit 4:00 Uhr morgens unterwegs ist und innerhalb kürzester Zeit 1.000 Kilometer zurücklegen will. Sollen sie, die Verrückten. Ich für meinen Teil genieße in aller Ruhe das Bier und setze mich dann gemütlich wieder in Bewegung. Kurz darauf  überquere ich die „Stateline“ zwischen Tennessee und Alabama.

Der „Stone Talker“
Bill, der Koch und Campingplatzbesitzer, hat mich dazu verpflichtet, den „Stone Talker“ zu besuchen. „When you reach Milepost 228, turn left. Ride about 150 yards and you come to a driveway. You will see stones. A wall of stones. Thousand and thousand of stones. Walk the driveway up and the Stone Walker will come out and tell you a story you will never forget.”

Weil es jedoch sein kann, dass der geheimnisvolle Stone Talker gerade nicht zuhause ist, wenn ich antanze, hat mir Bill wenigstens die wichtigsten Informationen geliefert. Und LEIDER LEIDER LEIDER, der Stone Talker war nicht da. Im Internet konnte ich nichts finden, werde aber Bill  noch um ein wenig detailliertere Auskünfte bitten, die ich dann hier einarbeiten werde. Soviel kann ich an dieser Stelle erzählen.

Die Geschichte vom Stone Talker beginnt mit dem „Trail of Tears“, zu dem ich vergangenes Jahr im Blog zum Mississippi River Trail wie folgt berichtet habe: "Die Geschichte zum Pfad der Tränen ist schnell erzählt und schwer zu vergessen. Es handelt sich um eine weitere Strophe des alten Liedes: Einst lebten hier Indianer: Cherokee, Creek und Chickasaw. Dann kamen die weißen Siedler und verjagten die Indianer mit Gewalt. Die U.S. Army hat sie alle nach Oklahoma getrieben. Im bitterkalten Winter starben die meisten der mangelhaft ausgerüsteten und völlig unzureichend versorgten Indianer. Männer, Frauen, Kinder. Nur wenige überlebten. Eine amerikanische Variante unserer Todesmärsche. Dieser von Leid und Tod bestimmte Weg wurde zum Pfad der Tränen, dem „Trail of Tears“. Kaum war der letzte Indianer ausser Sichtweite, haben sich die weißen Siedler aus Europa den Mund abgeputzt, in die Hände gespuckt und als erstes ein schönes, neues Gotteshaus errichtet.“

Eine der Überlebenden war ein 15 Jahre altes Indianermädchen. Sie wollte sich nicht mit ihrem Schicksal abfinden, konnte nicht akzeptieren, nicht mehr in Ihrer Heimat leben zu dürfen. Also floh sie und machte sich alleine auf den Rückweg. Fünf Jahre hat sie gebraucht, aber sie kam zurück in ihre Heimat. Der Stone Talker ist einer ihrer Ur-Ur-Ur-Enkel und hat als Mahnmal und zum Gedenken an ein unbeugsames 15-jähriges Indianermädchen Tausende und Abertausende von Steinen zu einem verschlungenen und vielfach verschachtelten Kunstwerk aufgeschichtet. In viele Steine sind Figuren oder Gesichter eingeritzt, immer wieder sah ich Schmuck, Federn oder Amulette. Zu schade, dass mir der Stone Talker seine Geschichte nicht selbst erzählen konnte. Seufz.

Hier ein winziger Teil der gewaltigen Mauer(n), die locker die Fläche eines Fußballfeldes in ein Labyrinth verwandeln. Da sage mir noch einmal einer, Steine seien leblos.Wer hier durch wandert, verspürt zumindest einen Hauch des Schmerzes, den der "Trail of Tears" damals den Indianern zugefügt hat.


Über all den Steinen und Mauern habe ich an diesem Ort der Stille und der Klage und des Stolzes vollkommen die Zeit aus den Augen verloren. Ich wollte heute noch den Tennessee River überqueren, den ich bei leicht erhöhtem Tempo kurz vor Einbruch der Dämmerung so eben noch erreiche:

 

Kurz nach der Brücke schlage ich mein Zelt im Wald auf, wasche mich mit zwei Litern Teewasser und versuche, bei 33 Grad, hoher Luftfeuchtigkeit und völliger Windstille einzuschlafen. Vermutlich ist mir das irgendwann sogar gelungen.

Till Senn

22. September (Tag 89)

Waverly, TN – Natchez Trace, TN

Tages-Km: 112
Gesamt-Km: 4.806
Höhenmeter: 927
Zeit im Sattel: 6:49
Wetter: Sonnig
Temperatur: 21 – 32° C



Auflösung Filmzitat:
"Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Uns fehlen die Enzyme!"
… stammt aus „Der Schuh des Manitu“

Kontrastprogramm
Das Leben ist manchmal verrückt. Kaum findet man sich damit ab, dass es irgendwann einmal zu Ende geht mit einem, kaum hat man das Testament gewissenhaft überarbeitet und die ersten mahnenden Zeilen an die potenziellen Grabredner aus Politik, Sport und Wirtschaft ins Unreine geschrieben und dezent, aber bestimmt darum gebeten, sich bitte kurz zu fassen, wenn sie der erschütterten Menge vom Rathausbalkon auf dem Marienplatz zu München von meinem heldenhaften Tod in den tennesee-ischen Killerhügeln berichten … [EINATEM]… kurz: kaum macht man sich bereit für den „Big Sleep“, bettet das matte Haupt aufs Kissen und will eben nach dem Lichtschalter greifen – da ist mit einem Mal alles anders: Die Hügel werden kleiner, die Steigungen flacher und die Geröllhalde von einer Straße zu poliertem Ebenholz. Selbst einen Schwebebalken-Seitenstreifen gönnen sie dir auf einmal und sogar die Hundeplage wird vorübergehend beinahe erträglich. Fazit Tennessee kann auch anders. Also lasse ich das Licht an, quäle mich langsam wieder hoch, streife mir müde die Radklamotten über und mache mich erneut auf den langen Weg nach Key West.

Zum Zeitpunkt des folgenden Fotos wusste ich allerdings noch nichts von meinem Glück. Aus Waverly hinaus führt der 4-spurige Highway Nr. 13. Angenehm zu fahren, moderate Steigungen und ein endlos breiter Seitenstreifen lassen mich nach den ersten Kilometern nachsehen, ob ich nicht auf diesem Highway weiterfahren kann. Nun, ich kann nicht, jedenfalls nicht, wenn ich nach Key West will.


Also biege ich schweren Herzens in die County Road 230 ein – und lande im oben erwähnten Radlerparadies. Innerhalb von 15 Minuten ist die Freude am Fahren wieder da und ich genieße jeden der folgenden 107 Kilometer dieser kaum befahrenen und wunderschönen Etappe durch die sanfte Hügellandschaft von Ost-Tennesee. Größtenteils habe ich das Gefühl, durch eine Mischung zwischen botanischem Garten und offenem Zoo zu fahren. Wie können zwei aufeinanderfolgende Tagesetappen nur so unglaublich unterschiedlich sein. Gestern Mr. Hyde, heute Dr. Jeckyll.


Immer wieder komme ich durch verlassene Dörfer oder passiere leerstehende Häuser und kleine Farmen. Manche sehen auf den ersten Blick noch bewohnt aus. Erst ein genauerer Blick zeigt, dass hier schon längst keine Menschenseele mehr wohnt.


Und auch keine Hundeseele! Wenn ich eben noch von „Hundeplage“ gesprochen habe, dann meine ich das auch so. Jedes Haus, jeder Hof, jedes Kind, jede Frau und jeder Mann (hab ich was oder wen vergessen?) hat mindestens einen Hund. Es unmöglich, länger als ein paar Kilometer zu radeln, ohne dass nicht mindestens einer, meistens jedoch gleich ein Rudel von drei bis fünf dieser elenden Kreaturen auf einen zujagen und sich die Seele aus dem Leib bellen. Manche drehen derart durch, dass sie ans Rad springen. Ich habe schon eine Reihe von Radlern getroffen, die mir stolz die Narben von Hundebissen zeigten. Ich hasse Hunde zwar, aber ich fürchte sie nicht und wenn mir die Viecher vors oder ans Rad springen, bremse ich, springe meinerseits vom Rad und gehe forsch – bayrische Flüche und Beschimpfungen lauthals rezitierend – auf die Viecher zu. Im Normalfall verblüfft sie das und sie ziehen sie sich zurück, hören aber leider nicht damit auf, dir die Trommelfelle zu zerbellen. Mittlerweile greife ich ziemlich großzügig auf mein Hundeabwehrwaffenarsenal zurück, das wesentlich mehr Durchschlagskraft als meine Flüche zeigt und mangels Revolvergurt am Lenker montiert ist.


Rechts die Ultraschall-Ohrfeige, die ich sogar während des Fahrens einsetzen kann: „Shoot from the saddle!“ Links die chemische Keule, die nur zum Einsatz kommt, wenn mir ein Köter wirklich zu nahe kommt (= vor das oder an das Rad oder an mich springt, was allerdings selten der Fall ist). Aber wie gesagt, heute habe ich einen (fast) hundefreien Tag.

Als ich dieses Schild sehe, weiß ich, dass der in Nashville, Tennessee beginnende „Natchez Trace“ nicht mehr allzuweit entfernt sein kann.


Wieder einmal bin ich von der schlichten Schönheit der amerikanischen Friedhöfe bezaubert. Kein Zaun, keine Friedhofsordnung und keine Jammertalstimmung. Stattdessen ein buntes Meer von Blumensträußen, das Leben und Tod einander näherbringt und der Trauer Luft zum Atmen lässt.


Nach knapp 7 Stunden Fahrzeit erreiche ich den lange ersehnten „Natchez Trace“. Mann, bin ich froh und erleichtert! Dass ich heute mehr Höhenmeter als gestern in den Beinen habe, ist mir wegen der moderaten Steigungen überhaupt nicht aufgefallen.


Was es mit dem „Natchez Trace“ auf sich hat, erzähle ich morgen.


Till Senn

Zwischenbericht zur Lage der Nation ...

Bin und habe es gescha...chrfsz...t - stop - Intern...chrrszzzssszrr...dung schlecht - stop - chrrsszzzfrz... estern 70 Kilometer südlich von Nashville, Tenn...chrssszrrrffrzzkk... auf den "Natchez Trace" eingebogen - stop - hurra - stop - HURRA - stop - Internet jetzt besser - stop - erreiche heute noch (per Fähre über den Tennessee River) Cherokee in Alabama, wo ich "basic" zelten werde - stop - morgen will ich nach Tupelo in Mississippi kommen, wo ich wieder einen Hoteltag einlege und dann den Blog vernünftig aktualisiere - over and out

Till Senn

21. September (Tag 88)

Dover, TN – Waverly, TN

Tages-Km: 70
Gesamt-Km: 4.694
Höhenmeter: 845
Zeit im Sattel: 5:10
Wetter: sonnig
Temperatur: 22– 34° C


Mörderisch
Vergesst die Rocky Mountains. Kinderkram. Wer mörderische Berge erleben will, möge durch Tennessee radeln. Gestern hatte ich 940 Höhenmeter auf 130 Kilometer, heute war das Verhältnis 845/70. Mörderisch. Immer wieder musste ich (ICH!) absteigen, um zu schieben. Die Höchststrafe für den (männlichen) Tourenradler. SCHIEBEN, wie PEINLICH! Aber unumgänglich. Fahren war (mit meinem Gepäck) bei mehr als 12% Steigung für mich unmöglich.

Ohne Gepäck wäre die Gegend allerdings perfekt zum Radeln. Die idyllische Route führt durch einsame Hügellandschaft; alle 20 oder 30 Kilometer mal ein Haus, alle 20 oder 30 Minuten mal ein Auto. Immer wieder verschluckt einen der endlose Wald und Zikaden sowie allerlei Gefiedertes übernehmen die akustische Vorherrschaft. Schmetterlinge und Libellen tanzen dazu, Eichhörnchen jagen über die Straße, Rehe (oder so; na ja, was weiß ich – ich bin kein Botaniker :-) beäugen mich ohne Angst aus nächster Nähe und hin und wieder trippelt eine kleine Schildkröte mitten auf der Straße und ich pflücke sie auf und setze sie in sicherer Entfernung wieder ab. Motto: „Es hilft im Wood der Hermi Hood.“

Es folgt ein Bild von einer laaaaaaaangen und fast ebenen Strecke. 78,3 Meter!


Jetzt der Blick nach vorne: die nächste Steigung...,


... die – wie üblich – auf dem Bild nie so brutal aussieht wie sie in Wirklichkeit IST. Sie WAR, und zwar sogar eine Schiebe-Steigung. Wer aus Garching, Hart oder Unterneukirchen kommt, der kennt entweder den Berg in Wald a.d. Alz zum „Ott“ hinauf oder die Steigung nach Margarethenberg, genauer gesagt, die letzten 70 Meter. Genauso dürft ihr euch die gestrige und heutige Etappe vorstellen. Hundert Mal am Tag zum Ott oder nach Margarethenberg hinauf. Oben umdrehen, wieder runter, umdrehen, wieder rauf, umdrehen… Und rund 50 Kilo Gepäck am Rad.

Je kleiner (nebener?) die Straße, desto steiler die Steigungen und Abfahrten. ÜBERRASCHUNG! Hin und wieder brettert man bergab mit 50 Sachen auf so etwas zu:


Das „Hole“ ist eher ein Krater und kommt 5 bis 7 Meter nach dem Graffiti, also ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, zu dem das Hirn die Übersetzung liefert und der Körper vorsorglich schon einmal die Adrenalinproduktion in Gang setzt. Wer mit dem Rad in einen dieser Krater reindonnert, der lernt die wirkliche Bedeutung von „salto mortale“ kennen; mit Betonung auf „mortale“. Nach dem zweiten Hole, das ich so eben noch umfahren konnte, bin ich bergab nur noch unwesentlich schneller als bergauf gefahren. Also etwa 4,3 km/h.

Ach ja, und dann ist da noch der Straßenbelag – oder wie immer man diesen Aggregatszustand bezeichnen will:


Ich muss es noch einmal betonen: ich will nicht jammern. Solche Streckenabschnitte gehören zu einer USA-Durchquerung. In 1.700 Jahren lache ich bestimmt darüber. Was ich hier und heute beklage, ist einzig der Tunnelblick, den ich bei derart anstrengendem Terrain entwickle. Ich blende die wunderschöne Welt um mich herum aus und bin nur noch damit beschäftigt, meinen Willen anzuheizen, damit dieser die Muskeln überredet, noch eine und noch eine und noch eine und noch eine Umdrehung zu treten. Da könnte ich genauso gut zuhause in völliger Dunkelheit auf dem Ergometer sitzen, den ich auf 270 Watt eingestellt habe. Wenn jede Pedalumdrehung zum Sieg wird, gerät die Freude am Radeln zum Verlierer. Vorübergehend ist das Teil des Programms, auf Dauer wäre es jedoch Themaverfehlung.

Mit etwas Glück schaffe ich es morgen, spätestens aber übermorgen zum „Natchez Trace Parkway“, auf den ich mich schon sehr freue. Letztes Jahr durfte ich (im Bundesstaat Mississippi) einen Teil dieses Radler-Eldorados fahren. Nun bin ich gespannt, wie er in Tennessee aussieht.

Till Senn

P.S. Passend zu all der Quälerei mal wieder ein Filmzitat, das ihr dem passenden Film zuordnen dürft:

"Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Uns fehlen die Enzyme!"

Nochmal P.S.

Weil ich im Zimmer keine vernünftige Internetanbindung habe, bin ich ins "Office" des Motels gegangen. Der Inhaber ist Inder und war viele Jahre lang (in Südarfrika) Leiter eines "Krishna Murti" Zentrums. Herrn Murti wird jetzt wiederum nur der Blogleser Schorsch Bauer kennen, der mir ja ständig mit seinen (wirklich) klugen Sprüchen in den Ohren liegt. Der Motelbesitzer und ich werden uns gleich nach dem Veröffentlichen dieses Blogeintrags wieder den theologisch-weltanschaulichen Diskussionen zuwenden, die wir für die Blogaktualisierung schweren Herzens kurz unterbrochen haben.

Da muß ich in ein mittelklassiges Motel in Hintertennessee radeln, um die erste wirklich erquickliche theologische Diskussion seit Monaten zu führen: ein Bayer in Tennessee mit einem Südafrikaner. Warum einfach, wenn's auch umständlich geht?

20. September (Tag 87)

Paducah, KY – Dover, TN

Tages-Km: 132
Gesamt-Km: 4.624
Höhenmeter: 940
Zeit im Sattel: 7:46
Wetter: sonnig
Temperatur: 21– 33° C



First things first: „Will nicht, muss!“ stammt aus dem Film “M – eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931), mit dem großen Peter Lorre als „M“, Fritz Lang als Regisseur und Gustav „Mephisto“ Gründgens in einer Nebenrolle.

Und noch was Wichtiges. Die Fotos konnte man bisher ja auch schon durch Anklicken vergrößern. Blöderweise musste man dann aber über "Zurück" wieder zurück zum Blog. Tino Kluge hat das Problem jetzt gelöst und... aber seht am besten selbst und klickt ein Bild an. HALT! Da Tino immer erst mit Verzögerung basteln kann, kann es sein, dass ihr schneller seid als er. Versucht es im Zweifelsfall einfach mal an einem früheren Blogeintrag, dem gestrigen zum Beispiel.

Land between the Lakes
Schon vor Sonnenaufgang bin ich zugange: Waschen, Zähne putzen, mich mit Sonnenspray einnebeln, ein wenig husten (wegen des Sonnensprays), ein wenig schimpfen (wegen des Hustens), Mails checken, mit Deutschland telefonieren (skypen), den Kopf über die deutsche Bürorkatie schütteln (weil ich jetzt zum dritten Mal ein Blatt Papier ausdrucken, unterschreiben und dann nach Deutschland faxen und ein paar Tage später dasselbe nochmal machen darf, nur dann das unterschriebene ORIGINAL für 28 Dollar per Express nach Deutschland SCHICKEN muss). Prompt komme ich 45 Minuten später los als geplant.



Die ersten 50 Kilometer sind zum Vergessen. Also vergessen wir sie. Bei Kilometer 51 erreiche ich das „Land between the Lakes“, kurz: LBL (www.lbl.org) . Das Land zwischen den Seen ist ein Fernerholungsgebiet von der Größe eines Regierungsbezirkes. Es liegt zwischen dem Lake Barkley und dem Kentucky Lake und ist die größte Binnen-Insel (gibt es so etwas?) der USA.



Kein geringerer als John F. Kennedy hat im Jahre 1963 das Gebiet zum Erholungsgebiet ernannt. Die „Lakes“ sind eigentlich Flüsse: der Cumberland River und der Tennessee River. 1840 hieß die Gegend folgerichtig auch noch „Land between the rivers“. Aber nachdem man die beiden Flüsse künstlich aufgestaut und damit zu Seen umfunktioniert hatte, ist aus dem „Land between the rivers“ das „Land between the lakes“ geworden.



„Remember playing outside when you were a kid? You ran… and you jumped… and you yelled… and when the sun went down your mother called, “time to come home.” And you came inside with rosy cheeks, smelling of the wind… and the earth… and of all that was good.”

Aus diesem einleitenden Satz eines Werbeprospekts lässt sich messerscharf schließen, dass hier die Generation 50+ angesprochen ist. Kein Jugendlicher von Format würde heute freiwillig Dinge tun wie laufen oder springen. Schreien ja, aber niemals zeigen, dass in der viel zu großen Hose (Jungs) bzw. der viel zu engen Hose (Mädchen) doch so etwas ähnliches wie ein Mensch steckt, der ein Leben neben der Unterhaltungselektronik nicht nur kennt sondern dieses auch noch zu schätzen weiß. NEVVA EVVA!

Und Kinder? KINDER? HA! Wer „Kind“ sagt, muss auch „Mutter“ sagen. Keine moderne Mutter von Format würde es ertragen, wenn ihr Kind morgens in „DIE NATUR“ loszieht und erst abends wieder aufkreuzt. Du meine Güte! Kinder hinaus in eine Welt voller gefährlicher Dinge wie Wiesen, Sträucher oder Bäume. Von Bächen, Flüssen oder Wasserfällen gar nicht zu sprechen! GEFAHR, GEFAHR, LEBENSGEFAHR! In Wiesen lauern Löwen, hinter Sträuchern verstecken sich Kinderschänder und von Bäumen fällt man herunter. Lebensgefahr als die Gefahr, zu leben. Wir 50+er durften tatsächlich noch unbegluckt aufwachsen. Welch ein Glück, dass unsere Mütter nicht die Zeit dazu hatten, den ganzen Tag lang pädagogisch zu sein. Einem Kind kann nichts Schlimmeres passieren, als eine Mutter mit Hochschulabschluss und zuviel Freizeit. wir hatten damals die Alzauen, den Mühlbach und den Wasserfall, jede Menge Schiefer, Brandblasen und Bakterien (dafür keine Allergien), Baumhäuser, Tauchmanöver unter dem Wasserfall und Pfennigstücke auf den Gleisen des „Harter Bockerls“, Zündeln mit 7, Rauchen mit 8 und im Sommer täglich mit dem Rad die 10 Kilometer zum Burgkirchner Freibad und später dann ins Garchinger Bad. Ahh, auf das Phänomen der Erinnerungsverklärung kann ich mich immer verlassen. Schön war’s.

Wo war ich eigentlich? Ach ja… Aus Radlersicht ist das Land zwischen den Seen Himmel und Hölle zugleich. Himmel, weil man (außer am Wochenende) fast für sich allein radelt. Hölle, weil es derart hügelig ist, dass das Allgäu im Vergleich dazu wie Ostfriesland wirkt. Herrschaften, diese H.Ü.G.E.L. haben mir heute den allerletzten Zahn gezogen, das kann ich euch sagen. Alle. Und jeden einzelnen ohne Lokalanästhesie. Passagen wie die im folgenden Bild, also Abschnitte von mehr als 200 Meter OHNE Achterbahn kann ich an den Fingern einer halben Hand abzählen!



Wer auch immer die Straße gebaut hatte, muss Radfahrer zutiefst gehasst haben. Bis gestern bin ich auf dieser Tour erst fünf Mal über 900 Höhenmeter Tagesleistung gekommen. Und diese fünf Etappen waren allesamt im Gebirge! Heute waren es 940 Höhenmeter, nur zwei Meter weniger als bei der Mörder-Etappe den „Coquihalla Pass“ (Kanada) hinauf. Jessas!

Bei all dem Gejapse hätte ich beinahe vergessen zu erwähnen, dass ich mittlerweile in Tennessee bin. Das „Land between the lakes“ gehört zu etwa gleichen Teilen Kentucky und Tennesee.



Kurz vor Einbruch der Dämmerung und nach 7:46 Stunden im Sattel (und über 11 Stunden auf Achse) erreiche ich endlich Dover. Sitzen kann ich immer noch, treten kaum mehr. Die Schenkel glühen und die Waden fühlen sich an wie zwei Schnitzel, die man fast acht Stunden lang weichgeklopft hat.

Bis morgen früh hat sich das hoffentlich wieder eingerenkt. Um 6:00 Uhr klingelt jedenfalls der Wecker. Ich will morgen… aber das wisst ihr mittlerweile ja schon.

Till Senn