Dover, TN – Waverly, TN
Tages-Km: 70
Gesamt-Km: 4.694
Höhenmeter: 845
Zeit im Sattel: 5:10
Wetter: sonnig
Temperatur: 22– 34° C
Mörderisch
Vergesst die Rocky Mountains. Kinderkram. Wer mörderische Berge erleben will, möge durch Tennessee radeln. Gestern hatte ich 940 Höhenmeter auf 130 Kilometer, heute war das Verhältnis 845/70. Mörderisch. Immer wieder musste ich (ICH!) absteigen, um zu schieben. Die Höchststrafe für den (männlichen) Tourenradler. SCHIEBEN, wie PEINLICH! Aber unumgänglich. Fahren war (mit meinem Gepäck) bei mehr als 12% Steigung für mich unmöglich.
Ohne Gepäck wäre die Gegend allerdings perfekt zum Radeln. Die idyllische Route führt durch einsame Hügellandschaft; alle 20 oder 30 Kilometer mal ein Haus, alle 20 oder 30 Minuten mal ein Auto. Immer wieder verschluckt einen der endlose Wald und Zikaden sowie allerlei Gefiedertes übernehmen die akustische Vorherrschaft. Schmetterlinge und Libellen tanzen dazu, Eichhörnchen jagen über die Straße, Rehe (oder so; na ja, was weiß ich – ich bin kein Botaniker :-) beäugen mich ohne Angst aus nächster Nähe und hin und wieder trippelt eine kleine Schildkröte mitten auf der Straße und ich pflücke sie auf und setze sie in sicherer Entfernung wieder ab. Motto: „Es hilft im Wood der Hermi Hood.“
Es folgt ein Bild von einer laaaaaaaangen und fast ebenen Strecke. 78,3 Meter!
Jetzt der Blick nach vorne: die nächste Steigung...,
... die – wie üblich – auf dem Bild nie so brutal aussieht wie sie in Wirklichkeit IST. Sie WAR, und zwar sogar eine Schiebe-Steigung. Wer aus Garching, Hart oder Unterneukirchen kommt, der kennt entweder den Berg in Wald a.d. Alz zum „Ott“ hinauf oder die Steigung nach Margarethenberg, genauer gesagt, die letzten 70 Meter. Genauso dürft ihr euch die gestrige und heutige Etappe vorstellen. Hundert Mal am Tag zum Ott oder nach Margarethenberg hinauf. Oben umdrehen, wieder runter, umdrehen, wieder rauf, umdrehen… Und rund 50 Kilo Gepäck am Rad.
Je kleiner (nebener?) die Straße, desto steiler die Steigungen und Abfahrten. ÜBERRASCHUNG! Hin und wieder brettert man bergab mit 50 Sachen auf so etwas zu:
Das „Hole“ ist eher ein Krater und kommt 5 bis 7 Meter nach dem Graffiti, also ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, zu dem das Hirn die Übersetzung liefert und der Körper vorsorglich schon einmal die Adrenalinproduktion in Gang setzt. Wer mit dem Rad in einen dieser Krater reindonnert, der lernt die wirkliche Bedeutung von „salto mortale“ kennen; mit Betonung auf „mortale“. Nach dem zweiten Hole, das ich so eben noch umfahren konnte, bin ich bergab nur noch unwesentlich schneller als bergauf gefahren. Also etwa 4,3 km/h.
Ach ja, und dann ist da noch der Straßenbelag – oder wie immer man diesen Aggregatszustand bezeichnen will:
Ich muss es noch einmal betonen: ich will nicht jammern. Solche Streckenabschnitte gehören zu einer USA-Durchquerung. In 1.700 Jahren lache ich bestimmt darüber. Was ich hier und heute beklage, ist einzig der Tunnelblick, den ich bei derart anstrengendem Terrain entwickle. Ich blende die wunderschöne Welt um mich herum aus und bin nur noch damit beschäftigt, meinen Willen anzuheizen, damit dieser die Muskeln überredet, noch eine und noch eine und noch eine und noch eine Umdrehung zu treten. Da könnte ich genauso gut zuhause in völliger Dunkelheit auf dem Ergometer sitzen, den ich auf 270 Watt eingestellt habe. Wenn jede Pedalumdrehung zum Sieg wird, gerät die Freude am Radeln zum Verlierer. Vorübergehend ist das Teil des Programms, auf Dauer wäre es jedoch Themaverfehlung.
Mit etwas Glück schaffe ich es morgen, spätestens aber übermorgen zum „Natchez Trace Parkway“, auf den ich mich schon sehr freue. Letztes Jahr durfte ich (im Bundesstaat Mississippi) einen Teil dieses Radler-Eldorados fahren. Nun bin ich gespannt, wie er in Tennessee aussieht.
Till Senn
P.S. Passend zu all der Quälerei mal wieder ein Filmzitat, das ihr dem passenden Film zuordnen dürft:
"Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Uns fehlen die Enzyme!"
Nochmal P.S.
Weil ich im Zimmer keine vernünftige Internetanbindung habe, bin ich ins "Office" des Motels gegangen. Der Inhaber ist Inder und war viele Jahre lang (in Südarfrika) Leiter eines "Krishna Murti" Zentrums. Herrn Murti wird jetzt wiederum nur der Blogleser Schorsch Bauer kennen, der mir ja ständig mit seinen (wirklich) klugen Sprüchen in den Ohren liegt. Der Motelbesitzer und ich werden uns gleich nach dem Veröffentlichen dieses Blogeintrags wieder den theologisch-weltanschaulichen Diskussionen zuwenden, die wir für die Blogaktualisierung schweren Herzens kurz unterbrochen haben.
Da muß ich in ein mittelklassiges Motel in Hintertennessee radeln, um die erste wirklich erquickliche theologische Diskussion seit Monaten zu führen: ein Bayer in Tennessee mit einem Südafrikaner. Warum einfach, wenn's auch umständlich geht?