22. September (Tag 89)

Waverly, TN – Natchez Trace, TN

Tages-Km: 112
Gesamt-Km: 4.806
Höhenmeter: 927
Zeit im Sattel: 6:49
Wetter: Sonnig
Temperatur: 21 – 32° C



Auflösung Filmzitat:
"Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Uns fehlen die Enzyme!"
… stammt aus „Der Schuh des Manitu“

Kontrastprogramm
Das Leben ist manchmal verrückt. Kaum findet man sich damit ab, dass es irgendwann einmal zu Ende geht mit einem, kaum hat man das Testament gewissenhaft überarbeitet und die ersten mahnenden Zeilen an die potenziellen Grabredner aus Politik, Sport und Wirtschaft ins Unreine geschrieben und dezent, aber bestimmt darum gebeten, sich bitte kurz zu fassen, wenn sie der erschütterten Menge vom Rathausbalkon auf dem Marienplatz zu München von meinem heldenhaften Tod in den tennesee-ischen Killerhügeln berichten … [EINATEM]… kurz: kaum macht man sich bereit für den „Big Sleep“, bettet das matte Haupt aufs Kissen und will eben nach dem Lichtschalter greifen – da ist mit einem Mal alles anders: Die Hügel werden kleiner, die Steigungen flacher und die Geröllhalde von einer Straße zu poliertem Ebenholz. Selbst einen Schwebebalken-Seitenstreifen gönnen sie dir auf einmal und sogar die Hundeplage wird vorübergehend beinahe erträglich. Fazit Tennessee kann auch anders. Also lasse ich das Licht an, quäle mich langsam wieder hoch, streife mir müde die Radklamotten über und mache mich erneut auf den langen Weg nach Key West.

Zum Zeitpunkt des folgenden Fotos wusste ich allerdings noch nichts von meinem Glück. Aus Waverly hinaus führt der 4-spurige Highway Nr. 13. Angenehm zu fahren, moderate Steigungen und ein endlos breiter Seitenstreifen lassen mich nach den ersten Kilometern nachsehen, ob ich nicht auf diesem Highway weiterfahren kann. Nun, ich kann nicht, jedenfalls nicht, wenn ich nach Key West will.


Also biege ich schweren Herzens in die County Road 230 ein – und lande im oben erwähnten Radlerparadies. Innerhalb von 15 Minuten ist die Freude am Fahren wieder da und ich genieße jeden der folgenden 107 Kilometer dieser kaum befahrenen und wunderschönen Etappe durch die sanfte Hügellandschaft von Ost-Tennesee. Größtenteils habe ich das Gefühl, durch eine Mischung zwischen botanischem Garten und offenem Zoo zu fahren. Wie können zwei aufeinanderfolgende Tagesetappen nur so unglaublich unterschiedlich sein. Gestern Mr. Hyde, heute Dr. Jeckyll.


Immer wieder komme ich durch verlassene Dörfer oder passiere leerstehende Häuser und kleine Farmen. Manche sehen auf den ersten Blick noch bewohnt aus. Erst ein genauerer Blick zeigt, dass hier schon längst keine Menschenseele mehr wohnt.


Und auch keine Hundeseele! Wenn ich eben noch von „Hundeplage“ gesprochen habe, dann meine ich das auch so. Jedes Haus, jeder Hof, jedes Kind, jede Frau und jeder Mann (hab ich was oder wen vergessen?) hat mindestens einen Hund. Es unmöglich, länger als ein paar Kilometer zu radeln, ohne dass nicht mindestens einer, meistens jedoch gleich ein Rudel von drei bis fünf dieser elenden Kreaturen auf einen zujagen und sich die Seele aus dem Leib bellen. Manche drehen derart durch, dass sie ans Rad springen. Ich habe schon eine Reihe von Radlern getroffen, die mir stolz die Narben von Hundebissen zeigten. Ich hasse Hunde zwar, aber ich fürchte sie nicht und wenn mir die Viecher vors oder ans Rad springen, bremse ich, springe meinerseits vom Rad und gehe forsch – bayrische Flüche und Beschimpfungen lauthals rezitierend – auf die Viecher zu. Im Normalfall verblüfft sie das und sie ziehen sie sich zurück, hören aber leider nicht damit auf, dir die Trommelfelle zu zerbellen. Mittlerweile greife ich ziemlich großzügig auf mein Hundeabwehrwaffenarsenal zurück, das wesentlich mehr Durchschlagskraft als meine Flüche zeigt und mangels Revolvergurt am Lenker montiert ist.


Rechts die Ultraschall-Ohrfeige, die ich sogar während des Fahrens einsetzen kann: „Shoot from the saddle!“ Links die chemische Keule, die nur zum Einsatz kommt, wenn mir ein Köter wirklich zu nahe kommt (= vor das oder an das Rad oder an mich springt, was allerdings selten der Fall ist). Aber wie gesagt, heute habe ich einen (fast) hundefreien Tag.

Als ich dieses Schild sehe, weiß ich, dass der in Nashville, Tennessee beginnende „Natchez Trace“ nicht mehr allzuweit entfernt sein kann.


Wieder einmal bin ich von der schlichten Schönheit der amerikanischen Friedhöfe bezaubert. Kein Zaun, keine Friedhofsordnung und keine Jammertalstimmung. Stattdessen ein buntes Meer von Blumensträußen, das Leben und Tod einander näherbringt und der Trauer Luft zum Atmen lässt.


Nach knapp 7 Stunden Fahrzeit erreiche ich den lange ersehnten „Natchez Trace“. Mann, bin ich froh und erleichtert! Dass ich heute mehr Höhenmeter als gestern in den Beinen habe, ist mir wegen der moderaten Steigungen überhaupt nicht aufgefallen.


Was es mit dem „Natchez Trace“ auf sich hat, erzähle ich morgen.


Till Senn

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