21. August (Tag 57)

Auflösung Filmzitat:

"Ey Mann, du blutest."
"Ich habe keine Zeit zum Bluten."

stammt aus "Predator".


Ein Tag als Vampir
Nachdem die Hitze Angie am ERSTEN Prärie-Tag erwischt hat, habe ich meine Überdosis Sonne mit einem Tag Verspätung bekommen. Um 2:00 Uhr morgens war die Nacht für mich jedenfalls vorbei und als der Wecker um 6:15 Uhr geklingelt hat, war klar, dass ich heute keine 110 Kilometer in sengender Hitze radle sondern besser einen Tag als Vampir verbringe: KEINE SONNE! Die Schotten sind dicht, wobei es bei den Fenstern unseres Etablissements kaum einen Unterschied ausmacht, ob die Vorhänge offen oder geschlossen sind. Die Einweg-Handschuhe, die für besonders schmutzige Arbeiten am Rad vorgesehen sind, leisten in dieser Absteige gute Dienste. Zwei dicke, große, schwarze und quicklebendige Käfer habe ich bislang ebenfalls schon aus der Wohnung geworfen. Die Schlacht gegen die Fliegen ist zwar noch in vollem Gange, aber nach knapp 20 Stunden zeichnet sich ein Sieg für die Menschen ab.

Warum dann nicht zelten, wenn das Motel so schlimm ist? Weil es in Eads erstens keinen Zeltplatz gibt und zweitens Zeltplätze im Freien sind und es dort hell und heiß ist. Und das mögen Vampire nicht. Abgesehen davon sind die seltenen Campingplätze noch spartanischer ausgestattet als die klimatisierte Absteige hier. Es ist ja nett, dass die wenigen Dörfer entlang des "Prairie Horizons Trail" es den durchreisenden Radlern gestatten, im Dorfpark ihr Zelt aufzuschlagen. Aber man muß die Dorfparks gesehen haben, um zu wissen, dass man dort nur zeltet, wenn die Pläne "A" bis "Y" ausgeschöpft sind. Der Park in Eads ist beispielsweise so groß wie der Balkon eines Reihen-Mittelhauses und liegt eingekeilt zwischen einem Kinderspielplatz, einem rund um die Uhr laufenden Dieselaggregat, das einen Ozeandampfer antreiben könnte und einer stark frequentierten Durchgangsstraße für Trucks. Gegen den Dorfpark von Eads wäre Zelten am Münchner Stachus eine Wellness-Oase des Friedens und der Ruhe.

Vampirtage wie diesen nutze ich gerne für Recherchen zur Geschichte der Region, wozu ich sonst aus Zeitgründen nicht komme. Von allen Geschichten, auf die ich im Zusammenhang mit Eads gestoßen bin, geht mir das "Sand Creek Massaker" am meisten nach. Während des Mississippi River Trails war es der "Trail of Tears", diesmal ist es das "Sand Creek Massaker", das ob seiner Ernsthaftigkeit nicht recht zum sonstigen Stil des Blogs passen will, aber trotzdem hierher gehört, weil es ebenfalls ein wesentlicher Teil dessen ist, was ich auf diesen langen Reisen erlebe.

Das "Sand Creek Massaker"
Die 750-Einwohnerstadt Eads ist seit 1901 County Seat (Kreisstadt) von Kiowa County, Colorado. Auf http://www.kiowacountycolo.com ist zu lesen: "Kiowa County truly is where the Sun first shines on the state of Colorado. Located on the Eastern edge of Colorado, beautiful sunrises adorn 1872 square miles of pristine beauty, crystal blue skies, and vast prairies literally unscarred by urban blight. Adding to the pastoral beauty of Kiowa County is an amazing 23 square surface miles of lakes and reservoirs, making Kiowa County a boating and fishing paradise nearly unparalleled in Colorado!"

Klingt nach einem Paradies. Bis 1850 leben Cheyenne und Arapaho Indianer hier. Dann erreichte der Goldrausch auch die Rocky Mountains und die weißen Siedler und Goldsucher kamen, nahmen und besaßen. Klar, dass das den Indianern missfiel, die sich zunehmend mit Gewalt dagegen wehrten, dass man ihnen ihr Land stahl. Nach einer Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Armee waren die meisten Cheyenne und Arpahos angesichts ihrer juristischen und militärischen Chancenlosigkeit bereit, Frieden zu schließen. Sie erklärten sich bereit, einen Vertrag zu unterzeichnen - wenn man derartiges Unrecht überhaupt so bezeichnen darf - demzufolge sie ihr Land mit sofortiger Wirkung an die USA abtreten, ihre Heimat, ihre Geschichte und ihr bisheriges Leben aufgeben und in sich in ein Reservat in Oklahoma zurückziehen mussten. Während 800 Cheyenne und Arapaho auf die Vertragsverhandlungen warteten, lagerten sie (nahe unseres derzeitigen Aufenthaltsortes Eads) am "Sand Creek". Häuptling "Black Kettle" ließ die militärische Führung unmissverständlich wissen, dass man zum Frieden bereit sei.

Chief "Black Kettle" (Quelle: Wikipedia)

Während man also am Sand Creek auf die Reaktion des Weißen Mannes wartete, kommandierte Black Kettle die meisten seiner Krieger zur Jagd ab. Dann kam die Reaktion. Am 29. November 1864 griff die Armee unter der Leitung von Colonel John M. Chivington im Morgengrauen das friedliche Lager von drei Seiten an.

Colonel John M. Chivington (Quelle: Wikipedia)

Als Häuptling Black Kettle die anstürmenden Truppen sah, hisste er sowohl die US-Flagge als auch eine weiße Flagge in einem verzweifelten Versuch, die Friedensabsichten der Indianer zu dokumentieren. Vergeblich, denn Chivingtons Befehl an seine Offiziere und Soldaten lautete: "Keine Gefangenen!" Die Zahlen über die Opfer schwanken, sind aber für das Maß an Unmenschlichkeit irrelevant. Ob es 150, 200 oder 600 wehrlose Menschen, hauptsächlich übrigens Frauen und Kinder, waren, die gnadenlos niedergemetzelt wurden, spielt keine Rolle - oder sind zwei Morde doppelt so schlimm als einer? Wenn nicht, aber schlimmer, um wieviel schlimmer genau? Was mir bleibt, ist das sprachlose Entsetzen, die maßlose Wut und die unendliche Trauer, die ich in solchen Fällen jedes Mal aufs Neue empfinde.

Anmerkung:
Chivington handelte nicht im Sinne der militärischen Führung und versuchte anschließend, das Gemetzel als mutigen Sieg gegen aggressive und bewaffnete Indianer darzustellen. Allerdings gab es Augenzeugen, die zum Entsetzen der Nation die tatsächlichen Vorkommnisse ans Tageslicht brachten. Ein Offizier, Capt. Silas Soule, hatte sich geweigert, Chivingtons Befehl Folge zu leisten und untersagte seinen Soldaten, auch nur einen einzigen Schuss auf Wehrlose abzugeben. Silas Soule sagte später sogar offiziell gegen Colonel Chivington aus und wurde kurz darauf ermordet, während die Strafe für Chivington so aussah, dass er sich mit dem Massaker zwar seine militärische Karriere versaut hatte, ansonsten aber unbehelligt bis 1894 in Freiheit weiterleben durfte.

Till Senn

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