6. Oktober (Tag 103)

(Fast) Lake City, FL – Gainesville, FL

Tages-Km: 130
Gesamt-Km: 6.340
Höhenmeter: 410
Zeit im Sattel: 6:37
Wetter: Sonnig
Temperatur: 12 – 24° C


Leicht verschätzt, aber kreativ
Gestern Abend war ich wohl zu müde, um die heutige Etappe vernünftig durchzurechnen. „Knapp 100 Kilometer“ war das Ergebnis einer schnellen Kalkulation. Ergo: Ausschlafen. Der Körper hat’s dankend angenommen und nach dem späten, ausgiebigen und herrlich ungesunden Frühstück bin ich um 10:40 Uhr tatsächlich doch noch losgefahren. Gemütlich-beschauliche Strecke durch dünnst besiedelte Gegend und ruck-zuck waren die ersten 80 Kilometer rum. Mooo-ment! 80 Kilometer? Dann müsste ich ja fast in Gainesville sein. War ich aber nicht sondern ich stand am Ortsschild von High Springs. Von hier bis Gainesville, so sagte die Karte, seien es noch 50 Kilometer! Fazit: ich habe mich vor lauter Schludrigkeit um 30 Kilometer verschätzt. Kein Problem, aber auch kein Anlass zur Freude. Nach einem kurzen, aber sättigenden Nachmittags-Essen beim Chinesen (mit viel NUDELN und REIS!!!!) ging es zunächst auf ruhigen Straßen weiter Richtung Süden. Je näher Gainesville rückte, desto mehr Autos waren unterwegs und der Adrenalinpegel begann langsam zu steigen. Aber dann kam die positive Überraschung: etwa 15 Kilometer außerhalb der Stadtgrenze beginnen die „Bike Lanes“, eigene Fahrspuren für Radler, auf denen ich dann entspannt und sicher bis ins Stadtzentrum radeln konnte. Und da bin und bleibe ich bis morgen.

Gainesville gehört mit 120.000 Einwohnern zu den großen Städten dieser Rad-Reise. Die größte und älteste Universität Floridas hat hier ihren Sitz und ist einer der Hauptarbeitgeber. Der Musiker Tom Petty kommt aus Gainesville und – so etwas interessiert mich natürlich immer – die Stadt kann auf 96 Kirchen aus 20 Konfessionen verweisen. 20 Konfessionen, und alle haben recht.

Dass man hier in einer Studentenstadt gelandet ist, spürt man wohltuend an allen Ecken und Enden. Es beginnt mit den „Bike Lanes“ und reicht über unzählige Kneipen, Bars, Restaurants oder Cafés bis hin zu Straßenmusik, bevölkerten Parks einer lebendigen Innenstadt. Jeder dritte Passant (unter 30) rief mir zu „Hey, nice bike!“ oder „Much fun, whatever you are doing!“ Beinahe schade, dass ich morgen schon früh wieder abzische, aber mich zieht es nach St. Augustine und an die Atlantikküste.

Gab’s besonderes Vorkommnisse heute? Ein paar. Zum Beispiel dieses Haus mitten im Nichts. Was auch immer das Ding sein mag, das wie eine überdimensionale Mülltonne aussieht und das NASA-Logo im Gesicht hat…


Dann war da dieser unglaublich wahnsinnig riesige gewaltige Baum auf dem Dorfplatz von Wellborn:


Und schließlich ein „Goathead“ im Hinterreifen. Goatheads sind Dornen, die sich in alles bohren, was nicht bei „Drei“ auf den Bäumen ist. Im Normalfall ein garantierter Platten. NICHT SO BEIM SCHWALBE MARATHON! Ich habe das Teil mit der Zange rausgezogen, kurz die Luft angehalten, der Reifen gottseidank auch, einen Moment gewartet, immer noch kein Zischen gehört – und bin einfach weiter gefahren. Dieser Reifen ist unglaublich. 6.340 Kilometer Laufleistung und immer noch NULL Platten.


Im Vorderreifen stecken derzeit (mindestens) sieben spitze Objekte, die aber entweder an der Reifenoberfläche abgebrochen sind bzw. bis zum Anschlag drin stecken. Der Reifen verkraftet Objekte von (fast) 1 cm Länge. Ich taste die Reifen einmal täglich ab, um zu sehen, was Sache ist. Nach dem Motto „If it runs, don’t fix it.“ verkneife ich mir jedoch Operationen. Wer weiß, was passiert, wenn ich die Dinger aus den Reifen heraus pule. DIESER Goathead musste natürlich raus.

Tja, und dann war da heute noch…

… der Zufall

Zuerst ein wenig Karl Valentin im Original, dann der Bezug zur heutigen Etappe:

„Denken's Ihnen nur, wir haben gestern einen Zufall erlebt. Ich und der Anderl gehen gestern in der Kaufinger Strasse und reden grad so von einem Radfahrer - im selben Moment, wo wir von einem Radfahrer sprechen, kommt zufälligerweise grad einer daher.“
„Das ist doch kein Zufall, wenn da in der Kaufinger Strassn a Radfahrer daherkommt! Da fahrn ja im Tag tausend Radfahrer umanander!“
„Nein, einer is bloss komma! Dann wär's ja kein Zufall, wenn man von einem redt, und tausend kommen daher.“
„Der Radfahrer wär ja auch gekommen, wenn Sie nicht von ihm geredt hätten.“
„Das weiss ich nicht.“
„Ach, da hätten Sie schon von was ganz anderem reden sollen. Wenn Sie zum Beispiel von einem Flieger gesprochen hätten. Und im selben Moment wär da oben einer dahergekommen, dann wär's eher ein Zufall gwesn!“
„Ja - naufgschaut ham ja mir net!“

Stellt euch vor, was ich heute für einen Zufall erlebt habe. Ich war der einzige Radfahrer auf einer einsamen Straße. Alle 10 oder 15 Minuten ein Auto. Höchstens. Ich hätte auf dem Mittelstreifen Brotzeit machen können. Dann sehe ich schon von weitem, dass mir ein Truck entgegen kommt. Kein Problem. Halt! Nicht EIN Truck sondern DREI. DREI fette Holzlaster, die aneinander kleben. Kein Problem. Mein antrainierter Automatismus lässt mich trotz des Wissens um die Autolosigkeit dieser Gegend in den Rückspiegel blicken – und ich sehe ZWEI Trucks, die von sich von hinten nähern. Unwahrscheinlich, aber immer noch kein Problem. Die Straße hat ja ZWEI Fahrspuren und wenn sich die LKW nicht genau dann begegnen, wennn.... aber genau das tun sie. Ein zweiter Blick nach vorne und in den Rückspiegel macht klar, dass sich die tonnenschweren Kolonnen exakt auf meiner Höhe begegnen werden. Also musste ich (mal wieder) in den Straßengraben rauschen, damit die herandonnernden Kolosse mich nicht zu Brei verarbeiten. Das waren die einzigen Laster auf einer Strecke von 60 Kilometern! Ich sollte wieder Lotto spielen. DAS GIBT ES NICHT! DAS KANN ES NICHT GEBEN! IN KEINER NORMALEN WELT KANN ES SO ETWAS JEMALS GEBEN: Völlig allein unterwegs und dann FÜNF Trucks auf einem Haufen und zwar so, dass ICH in den GRABEN muss! Schorsch Bauer – Du schweigst! Nix Energien, nix Karma, nix kosmisches Quackquarack. Einfach nur ein unglaublich besch… Zufall.

Im Übrigen war ich heute kreativ. Schon vor zwei Tagen habe ich wieder mal einen dieser deftigen Kirchen-Sprüche auf einer Tafel gelesen – und das hat meine Phantasie angefacht. Immer wieder fiel mir dieser Spruch ein, der sich wie ein Schiefer in meine Gedanken gebohrt und die Hirnhaut entzündet hatte. Heute habe ich die - bis auf eine LKW-Episode - ruhige Etappe dazu genutzt, einen kurzen, absolut bösen und vollkommen antikatholischen Ein-Akter zu verfassen. Vorläufig gibt es nur Notizen und jede Menge Ideen, aber wenn ich am Atlantik den ersten Pausentag am Strand einlege, werde ich das Ganze zu Papier bzw. Blog bringen. Ein wenig kann ich aber jetzt schon verraten:

Thema: „Nottaufe“
Handlung: „Ein Säugling will in den Himmel“
Besetzung: Säugling (Säugling), der „Liebe Gott“ (Gerhard Polt), die Arzthelferin Maria (Marianne Sägebrecht), die beiden Kerkerknechte aus „Das Leben des Brian“, die Elben Legolas (Orlando Blum) und Galadriel (Cate Blanchett) aus „Der Herr der Ringe“ sowie zwei Soldaten der Schweizer Garde.

Freunde, ich habe mittlerweile so viele Ideen, dass ich eine 52-teilige TV-Serie „Die himmlische Notaufnahme“ schreiben könnte.


Till Senn

1 Kommentar:

  1. Hi Herm,
    das find ich ja überhaupt: Dass Du Dich beruflich mehr dem kreativen Schreiben widmen solltest - Talent ist ja jede Menge da. Ich hab jetzt 14 Tage 'nach'gelesen (himalayantische Pause), und echt: Ich knie mich hin.
    Höchstachtungstvollst, Hans

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