12. Oktober (Tag 109)

St. Augustine, FL – Beverly Beach, FL

Tages-Km: 46
Gesamt-Km: 6.642
Zeit im Sattel: 2:59
Wetter: Sonnig
Temperatur: 19 – 31° C


Glück im Unglück
Nach einer miserablen Nacht mit vielen Magenkrämpfen und wenig Schlaf wollte ich dennoch unbedingt weiter, da das „Sleep Inn“ tagsüber ein „Ferno-Inn“ ist. Es liegt direkt an der Hauptstraße, mein Zimmer ist keine 5 Meter von der Fahrbahn entfernt. Ein richtiger amerikanischer Motorradfahrer verachtet BMW oder Honda und fährt stattdessen eine lärm-maximierte Harley Davidson. Außerdem dröhnt der Amerikaner nicht gerne allein durch die Prärie sondern in Horden von zehn bis zwanzig. Harleyfahrer machen keine Motorradtour, Harleyfahrer ziehen in den Krieg. Welch ein unvorstellbarer Krach. Da wackeln die Wände und du musst Glas, Computer und Lampe festhalten, damit der Kram nicht zu wandern beginnt und sich vor lauter Verzweiflung in die Tiefe stürzt. Sobald es dann allerdings dunkel wird, trauen sich die Harley-Fahrer nicht mehr vor die Türe – insofern war die Nacht ruhig – aber heute wieder einen ganzen Tag Ferno-Inn? NEIN. Dann schon lieber mit Magenkrämpfen und mit Schleichfahrt ein paar Kilometer radeln.

Schon nach 300 Meter war ich am Überlegen, ob ich nicht doch lieber das Ferno-Inn dieser Quälerei vorziehen soll. Die Krämpfe waren zwar ein wenig leichter, aber nicht verschwunden. Außerdem war ich derart schwach nach einer fast durchwachten Nacht und NULL Essen und NULL Frühstück, dass ich mit Mühe und Not die 15 Km/H-Grenze erreichen konnte. Ach ja, wie macht man sich eine Wärmflasche, wenn man keine hat, aber gerne eine hätte, um sie auf den Bauch zu legen? Kaffeemaschine (ist in jedem amerikanischen Hotelzimmer) einschalten und eine Fuhre Wasser ohne alles durchlaufen lassen, das heiße Wasser in eine leer getrunkene Plastikflasche füllen, die Plastikflasche mit einem Handtuch umwickeln und auf den Bauch legen. Funktioniert prächtig und bleibt lange warm!

Trotz Flachland und leichtem Rückenwind hatte ich das Gefühl, ich müsste bei Gegenorkan einen Kran über die Pyrenäen ziehen. Aber umkehren? Nein! Apropos Flachland: der Radlhans hat natürlich recht, wenn er sich über „68 Höhenmeter“ lustig macht. In Florida die Höhenmeter messen ist so sinnvoll wie Sonnentage in Island. Diese Information fliegt also mit sofortiger Wirkung aus der Statistik zu Beginn der Einträge. Ich lassen den Zähler aber weiter mitlaufen, weil ich am Ende wissen will, was Florida insgesamt hergibt.)

Bei Kilometer 45 hatte ich auf einmal das Gefühl, dass der Anhänger hoppelt. Ein Blick – ein Schock. Diagnose: Der Mantel ist auf eine Länge von 5 Zentimetern aufgerissen und der (kugelsichere) Schlauch quillt heraus. Großartig! Für das Fahrrad habe ich natürlich einen Ersatzmantel dabei, aber nicht für den Anhänger. Wieder was dazugelernt. Bis zum nächsten Radladen sind es dummerweise noch gut 35 Kilometer, bis zur Beverly Beach aber noch zwei und dort könnte es einen Laden geben. Was bis dahin tun? Improvisieren: Erste Hilfe leisten und hoffen, dass der Verband hält. Also verklebe ich eine komplette Rolle Leukoplast.


Und habe damit Beverly Beach erreicht. Im Campinplatz-Laden des „Camptown RV Resort“ wollte ich nun ein festes, dickes, unkaputtbares Islolierband kaufen und dann damit hoffentlich bis zum Radladen kommen. Hilfsbereit, wie die Amerikaner sind, bot sich Lance - was soll bei dem Namen schon schief gehen? - ein Mitarbeiter des Campingplatzes sofort an, sich die Sache mal anzusehen. „I have a shop over there.“ sagt er und wir laufen mit dem Hinterrad des Anhängers hinüber in die gut ausgestattete Werkstatt des Campingplatzes. Dort entpuppt sich Lance als Chirurg: er fingert mit Unterstützung von Warren ein abgerundetes Stück Hartplastik durch den Riss zwischen Schlauch und Mantel und vernäht anschließend die Wunde mit einem Angelhaken und Fischerschnur. Zum Schluss noch ein paar Kabelbinder und fertig ist die Not-Operation. Aufpumpen, Einbauen, weiter geht’s...


... nicht, denn Sid Patel, der Besitzer des „Camptown RV Resort“ (www.beverlybeachcamptown.com) ist dazu gekommen. Er freut sich sehr, dass das alles geklappt hat und macht gleich ein paar Scherze über „German and American engineering“. Dann bietet er mir an, dass ich kostenlos auf dem Campingplatz übernachten dürfe. Und zwar nicht nur im Zelt sondern in einer klimatisierten und mit allem pi-pa-po ausgestatteten Hütte (Cabin).


Ich druckse verlegen herum. „Mach kein Theater." sagt Sid. "Setz Dich erst mal her und wir trinken einen Kaffee. Dann gehst Du rüber in die Hütte, duschst, setzt Dich ans Meer und genießt den Tag“. Was ich dann auch getan habe. (Ingrid, Sid, Lance and Warren, thank you so much for your help and hospitality! Lance you might consider a career as a surgeon.) Und da sitze ich nun auf dem Balkon meiner Hütte, blicke auf das Meer vor mir und tippe diesen Blogeintrag. Ohne den geplatzten Reifen hätte ich das alles nicht erlebt. Radl-Be, ein Musterbeispiel für „Driften“.


Till Senn

2 Kommentare:

  1. So eng liegt's beinander: Vom Schicksal gestraft oder geküsst zu sein. Keep drifting!
    Grüße, Radlhans

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  2. Wir sind drei Tage früher aus Südtirol zurückgekommen. Verkehrte Welt: in den Bergtälern 8 Tage nur Hochnebel ohne einen sonnenstrahl und zu Hause Sonne pur.
    Noch viel Spaß (und wenig Zwischenfälle - auch wenn sie so gut enden)!
    Servus,
    Rudi

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